Wie wir nach einem Schock in den Alltag zurückkehren
2020: Du bist scheiße. Du bist wie ein Kaugummi, der unsere Zahnspange verklebt. Du bist wie eine Alarmanlage eines Autos, dessen Besitzer gerade nicht in der Nähe ist. Du bist wie ein kleiner Zeh, den man sich gerade bei einem Sesselbein angeschlagen hat. Deine endlose Schleife an Schock-Momenten lässt uns nur hoffen, dass man den Zeh bald amputiert.
Wie soll man da noch einem normalen Alltag nachgehen? Die Corona-Krise sorgt seit März für Schmerz, Frustration und Ungewissheit. Und am 2. November erschütterte Österreich ein noch viel grausameres Geschehen: Ein Terror-Anschlag in Wien. Unser Land, bis dahin eine Insel der (vielleicht manchmal grantigen) Seeligen, ist schockiert. Es fühlt sich nichts mehr normal an, nichts mehr richtig. Sogar das Zähneputzen passiert unter einer gewissen Grundspannung.
Ausnahmezustand 2020
Ich kann mich noch an Silvester 2019 erinnern. Nein, es war kein magischer Abend mit Feuerwerken, voller Hoffnung, was das nächste Jahrzehnt wohl bringen wird. Mit Mitte 20 ist der Jahreswechsel ein Abend wie jeder andere, vielleicht mit etwas mehr Alkohol als sonst und mit dem Hauch eines zwanghaften Gefühls doch irgendwie die ganze Nacht eine großartige Zeit zu erleben. Aber irgendwie ist man ruhiger, anders als die Jahre davor ist man glücklich, wenn Mitternacht endlich vorbei ist und man eigentlich keinen Grund mehr hat, aufzubleiben. Und genau so war eben mein Silvester 2019. Ich hatte einen ruhigen Abend mit Freunden. Wir haben gut gegessen, gut getrunken aber das Schönste an allem war: Ich war um 2 Uhr im Bett. „Das ist mein Leben. Ich hab’s herausgefunden, wie’s geht“, hab ich mir noch gedacht, meine innere Mitte gefunden. Mit 25 endlich Erwachsen und sogar Zen-Master schlechthin.
Etwas mehr als zwei Monate später dachte ich mir das nicht mehr. Das Coronavirus – bis dahin etwas, was nur die anderen Länder betraf – war nun auch auf der Insel der Seeligen angekommen. Am 13. März gab die Regierung einen Lockdown bekannt, damals noch vorsichtig als Ausgangsbeschränkung bezeichnet. Wir gingen alle kollektiv ins Homeoffice, Geschäfte, Restaurants und Lokale wurden gesperrt. Rausgehen durfte man nur noch zur Deckung bestimmter Grundbedürfnisse und zum Spazieren. Der Supermarkt ersetzte das Fortgehen. Ich war noch nicht wirklich schockiert, eher lethargisch und – typisch wienerisch – halt grantig. Einen Monat in den eigenen vier Wänden, ohne wirklich soziale Kontakte zu halten und während das Wohnhaus, in dem man mehr oder weniger eingesperrt ist, komplett umgebaut wird, mit Hammer und Bohrer und allem, ist nervig, aber noch nicht wirklich schockierend. Ab März waren wir alle eigentlich ständig in einem Ausnahmezustand und der Mensch kann ganz schön viel aushalten.
Der Schock
Denn, auch wenn 2020 unsere Psyche belastet und auch, wenn eine Wirtschaftskrise auf uns zukommt, und wir zurecht grantig sind, waren wir Österreicher bisher doch ziemlich ruhig. Manche Menschen haben begonnen ihre Nachbarn bei der Polizei zu verpetzen, was vielleicht nicht wirklich cool ist. Andere spielten Masken-Polizei, wieder andere verstehen bis heute nicht den Begriff „Mund-NASEN-Schutz“, aber im Großen und Ganzen bin ich weiterhin froh in der Gesellschaft der Österreicher zu sein. Dennoch wollen wir, was da 2020 mit uns passiert jetzt nicht beschönigen. Der andauernde Ausnahmezustand, die mittlerweile zwei Lockdowns (ich glaub die coolen Kids sagen mittlerweile Downlocking!?), die vielen Menschen, die aufgrund dieser Krise ihren Job verloren haben oder weniger verdienen: 2020 ist einfach scheiße.
Und am 2. November kam dann schließlich der absolute Schock für mich, für das ganze Land: Ein Terror-Anschlag in Wien. Mitten in der Stadt. An Orten, die wir alle täglich besuchen. Als ich zuerst von den Schüssen hörte, machte ich mich gerade für die Ausgangsbeschränkungen ab Mitternacht bereit, wollte meine Wohnung bewohnbar machen, für eine wochenlange Isolierungsphase. Anfangs dachte ich nicht einmal an einen Terror-Anschlag. So fern war diese Möglichkeit für mich, hier auf der Insel der Seeligen, die uns auch trotz Corona doch bisher noch sichere Spaziergänge bot. Als unsere Politiker schließlich bestätigten, dass es sich um einen Anschlag handelte, spürte ich langsam das, worauf ich das ganze Jahr unterbewusst gewartet habe: Ich war schockiert. Ich konnte die Realität nicht mehr fassen.
Die Realität akzeptieren
Auch am Tag nach dem Anschlag war stand ich noch unter Schock. Ich ging meiner Arbeit nach, aber hatte nebenbei die Nachrichten aufgedreht. Ich konnte nichts essen, trotzdem fühlte sich mein Magen unangenehm voll an, mir war kalt, aber ich schwitzte und während meine Finger in die Tasten des Computer-Keyboards schlugen, merkte ich, dass meine Hände ungewohnt unruhig und zittrig waren. Ich hatte den ganzen Tag einen Kloß im Hals und mein ganzer Körper war angespannt. Ich dachte: Das ist es jetzt. So wird es immer sein. Einen normalen Alltag wird es nie wieder geben. Wie soll man nach sowas auch wieder einem normalen Ablauf folgen? Kann man diese Realität überhaupt akzeptieren?
2020 kann den Österreichern gar nichts
Doch dann hörte ich von den Helden des Anschlags. Zwei türkischstämmige Wiener und ein Palästinenser riskierten ihr Leben, um einer Frau und dem verletzten Polizisten zu helfen. Ich las von den Menschen, die ihre Wohnungen als Unterschlupf für all jene anboten, die in der Wiener Innenstadt festsaßen und nicht nach Hause konnten. Und ich hörte von dem Wiener, der dem Attentäter aus seiner Wohnung zurief: „Schleich di, du Oaschloch“. Corona-Krise und Terror: 2020 kann den Österreichern gar nichts. Unsere Realität ist dieses Jahr nun einmal scheiße, aber wir machen weiter und bleiben so wie wir sind. Und nachdem ich mir das in Erinnerung gerufen habe, ging das Zähneputzen und Frühstücken am zweiten Tag nach dem Anschlag schon ein Stück leichter.