Wenn Schulden Lifestyle werden: Ist das Minus am Konto plötzlich in?
Was sich derzeit auf TikTok abspielt, ist nahezu unglaublich: Wer dort den Hashtag #Schulden eingibt, stößt auf unzählige Videos von jungen Menschen, die ihr Minus auf dem Konto offenlegen oder gar damit prahlen! Sind Geldprobleme jetzt tatsächlich in? Und sind sie ganz plötzlich aufgetaucht …?
Wir haben mit zwei Expertinnen über das Thema gesprochen.
Status: verschuldet
Naja, eigentlich sollte es in diesem Artikel um das Thema Side Hustle gehen. Denn wir in der Redaktion haben uns gefragt, wie es denn sein kann, dass sich gefühlt jeder Zweite auf Social Media plötzlich teure Designertaschen und Luxusmöbelstücke leisten kann. Our first guess: ein lukratives Nebengeschäft, das muss es sein! Bei der Recherche sind wir dann aber auf ein völlig anderes Phänomen gestoßen, das uns auch eine mögliche Antwort auf die Frage liefert. Die Location: TikTok!
Der TikTok-Clip beginnt mit einem Selfie, im Hintergrund läuft ein Remix des Songs Yeah! von Usher. „Ich wette, niemand kann meine Schulden toppen“, schreibt Ceyda, die mit ernstem Blick auf ihr Smartphone schaut. Als Nächstes wird ein Screenshot ihres Klarna*-Accounts eingeblendet: Mehr als 1.500 Euro Schulden sind da zu sehen. Und mit ihrem Video hat die 21-Jährige tatsächlich einen Nerv getroffen – unter dem Hashtag #Schulden laden aktuell unzählige junge Frauen und Männer Videos hoch, in denen sie ihre Minusstände bei Klarna, am Bankkonto oder auf der Kreditkartenabrechnung zeigen; zwischen 100 und mehreren Tausend Euro ist alles dabei.
@joinvitamin #stitch mit @g1navag1na ich hoffe dir gehts gut und die Schulden sind unter Kontrolle 🥺❤️ #Klarna #klarnaschulden ♬ Originalton – Vitamin
Eine Menge Geld für viele Menschen – und mitunter haben die Protagonisten der Clips nicht mal ein eigenes Einkommen. „Oh Mann, ich bin Stammkunde bei Inkasso“, schreibt ein User. „Diese Schulden haben mein Leben zerstört!“, schreibt eine andere TikTokerin. „Okay, kommt vor, dass Menschen ins Minus rutschen!“, dürfte sich der eine oder andere jetzt wohl denken. Aber haben wir tatsächlich ein Geldproblem oder wird unsere Gesellschaft lediglich immer offener, was die Transparenz des eigenen Kontostands angeht? Spoiler: So beunruhigend das jetzt auch klingen mag, aber das Phänomen spiegelt tatsächlich den aktuellen Zeitgeist wider.
Überschuldung trendet auch in Österreich
Was wir derzeit auf TikTok beobachten, lässt sich auch anhand der Zahlen hierzulande ablesen. Tatsächlich sind in Österreich immer mehr junge Menschen stark verschuldet. Das bestätigt uns auch die Schuldnerberatung Wien: „Wir merken einerseits bei den Neuanmeldungen, dass mittlerweile jede vierte Person, die zu uns kommt, jünger als 30 Jahre ist; andererseits berichten uns auch immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene bei Workshops über erste Erfahrungen mit Schulden“, so Gudrun Steinmann, Leiterin der Finanzbildung der Wiener Schuldnerberatung.
Die Dunkelziffer dürfte dabei aber noch höher sein, denn noch nicht volljährige Jugendliche suchen nur selten bei einer Beratungsstelle Unterstützung, auch wenn viele bereits in jungen Jahren damit beginnen, Schulden anzuhäufen. Das lässt den Schuldenberg schnell ins Unermessliche wachsen. „Vor allem Online-Bestellungen im Internet, die binnen Sekunden getätigt werden, führen zu Ratenzahlungen, die über Monate, manchmal sogar Jahre abbezahlt werden müssen. Das geht sich oft nicht aus“, so Steinmann. Und damit sind wir beim Kern der Sache.
Die „Buy now, pay later“-Falle
Während vor einigen Jahren das Wort Kredit wohl nur in Kombination mit den Worten Hausbau oder Wohnungskauf in den Mund genommen wurde, sieht das heute ganz anders aus. Eine Vintage-Birkin Bag oder das neueste Modell Air Jordan-Sneakers? Ratenzahlung macht den Kauf jederzeit möglich. Aber nicht nur das: Minikredite werden uns quasi nachgeworfen. „Mit dem Klick-Kredit Ihre Wünsche erfüllen“, lautet nur eine der vielen Werbungen, die uns da regelmäßig auf Instagram ausgespielt werden. Okay, aber wie einfach ist es nun wirklich, auf die Schnelle an einen Kredit zu kommen?
Wir machen den Test; ein Blick in die App unserer Bank des Vertrauens zeigt: Tatsächlich, mit nur wenigen Klicks können wir direkt einen Vertrag abschließen und bekommen einen Klick-Kredit von über 15.000 Euro. Nicht schlecht, denken wir uns, und sind zugegeben selbst überrascht. Zwar ist die jeweilige Kredithöhe natürlich auch individuell – doch fest steht: Noch nie wurde es uns so leicht gemacht, an einen Kredit zu kommen. Und genau da liegt auch die Gefahr. „Jungen Leuten wird es heutzutage tatsächlich sehr leicht gemacht, über ihren finanziellen Verhältnissen zu leben“, sagt Finanzberaterin Claudia Figl. Besonders kritisch sieht Figl dabei eben Kleinkredite. „Es ist leicht, durch Minikredite den Überblick zu verlieren. Da heute vieles ‚unbar‘ bezahlt wird, geht bei manchen Konsumenten der Bezug zu Geld verloren“, warnt sie.
Das Angebot, um schnell an Geld zu kommen, hat sich definitiv auch seitens der Banken gewandelt. „Während aus gängigen Sparformen wie dem Sparbuch und Bausparen nichts mehr zu holen ist, werden Finanzierungen beziehungsweise Kredite – noch! – zu absoluten Niedrigzinsen angeboten“, so Figl. Doch die Finanzexpertin konnte einen weiteren spannenden Trend feststellen: Neu ist, dass sich vor allem junge Frauen für einen Kleinkredit entscheiden, um sich Luxusartikel leisten zu können. Die Rolle des Buhmanns dürften da – wie so oft – Instagram und Co übernehmen.
Blame it on … Instagram
Laut Finanzberaterin Figl ist der Druck, der von den sozialen Medien und Peergroups ausgeübt wird, enorm. „Es wird gerade den jüngeren Fashionistas diktiert, was in und out ist und was sie notwendigerweise brauchen, um dazuzugehören. Zunehmend wichtig ist die Selbstdarstellung. Immer mehr junge Frauen wollen Pics ins Netz stellen, um sich perfekt und mit den trendigsten Must-haves in Szene zu setzen.“
Daher Achtung, auch wenn es leicht gemacht wird, Kredite für Kleidung und Accessoires aufzunehmen, irgendwann müssen diese zurückgezahlt werden! Figl rät, selbstkritisch zu reflektieren und sich zu fragen, ob das „Fashionfoto des Tages“ diesen Stress wert ist. Denn meist kommt der Minikredit mit einem langen Rattenschwanz daher, Stichwort Zinsen! Man verschuldet sich immer weiter und weiter.
Die Konsequenzen dürften den meisten aber wohl nicht ganz klar sein. Auch Gudrun Steinmann von der Schuldnerberatung Wien gibt zu bedenken: „Fünf Minuten ‚Ruhm‘ im Internet bedeuten oft jahrelange Schulden und im Worst Case eine Eintragung beim Kreditschutzverband – welcher die Bonität herabsetzt und den Abschluss möglicher späterer Verträge (z. B. Kredit für die Wohnung etc., Anm.) erschwert. Diese Folgen sind wohl den wenigsten jungen Menschen bewusst.“ Demnach trägt das fehlende Wissen rund um das Thema Finanzen eine Teilschuld an der ganzen Misere.
Finanzwissen: mangelhaft
Rächt sich nun etwa, dass die Lehrpläne der Schulen keine Haushaltsführung und kaum finanzielle Bildung umfassen? Der Verdacht liegt jedenfalls nahe, und sowohl die Schuldnerberaterin als auch die Finanzexpertin bestätigen uns diesen Eindruck. „Aufklärung und Information zum Thema Finanzplanung sind essenziell für ein ausgewogenes Finanzleben. Die Basis dafür muss bereits in der Schule, in der Lehre, an der Universität und auch bei der Beratung fürs erste Jugendkonto geschaffen werden“, erklärt Figl.
Doch sie sieht die Verantwortung auch bei den Eltern: „Viele Verhaltensmuster sind von klein auf selbst antrainiert oder wurden den jungen Erwachsenen vom Elternhaus mitgegeben. Schon mit Kindern und Jugendlichen sollte ausführlicher über die Konsequenzen ihres Handelns gesprochen werden.“ Obwohl Experten also den TikTok-Trend mit Sorge beobachten, bietet er gleichzeitig aber auch schon einen möglichen Ausweg aus der Schuldenfalle. Denn dass Diskurs und Enttabuisierung stattfinden müssen, um ein Bewusstsein zu schaffen, ist nahezu unerlässlich. Und eines steht fest: Es wird endlich über Schulden gesprochen – und das ist gut so!