Viel wird geklagt über die Kinder von heute: Sie wären viel schwieriger geworden, Hyperaktivität würde immer mehr zunehmen, sie wären grenzenloser, ungehorsamer, tyrannischer, unmotivierter, unkonzentrierter, könnten bereits im Kindergartenalter nicht mehr spielen, wären später die großen Pisa-Verlierer und so weiter und so fort.

Jedoch: Was, wenn die Kinder gar nicht dafür verantwortlich wären? Was, wenn wir Großen hinschauen müssten, wie sich die gesellschaftlichen Bedingungen verändert haben? Was, wenn wir die Verantwortung dafür übernehmen würden, den Kindern das, was ihr Recht ist, wieder zurückzugeben? Nämlich ihr Recht auf Kindsein; ihr Recht auf kindgemäßen Lebens- und Spielraum, Experimentier- und Abenteuerraum; „ihr Recht auf Lernen mit allen Sinnen“; ihr Recht auf Verspieltsein, Kindischsein; einfach ihr Recht auf den Status: Kind.

Sich fürs Elternsein Zeit nehmen

Es braucht viel Mut, mit Kindern andere Wege zu gehen, viel wechelseitige Bestärkung, viel Reflexionsvermögen und nicht zuletzt auch die Bereitschaft, viel Zeit für die Umsetzung aufzubringen. Zeit, die für die meisten Erwachsenen unserer Gesellschaft Mangelware ist. Wir leben beschleunigter (Klettverschluss statt Schuhbänder, Lift statt Treppe, Fernsehen statt Lesen), wir lassen uns beschleunigen und beschleunigen unsere Kinder damit.

Herzensbildung:

Betrachtet man die Forderungen nach Bildungsplänen für die ganz Kleinen, drängt sich schnell der Ruf nach dem wichtigsten Punkt auf: „Herzensbildung“! Und zwar in erster Instanz für uns Erwachsene – sind wir doch mit allem, was wir sagen, tun und sind das unmittelbare Vorbild der Kinder, ahmen sie doch all das, was ihnen von uns vorgelebt wird, mit großer Begeisterung nach. 

Also ist es wohl in erster Linie unser Auftrag, eigene Haltungen und Werte zu reflektieren, bevor „wir UNS auf die Kinder loslassen“. Wie halten wir es z.B mit unserem Lebenstempo, wie schaut unser Terminkalender aus, wie „multitasking-fähig“ sind wir? Es tut gut, immer wieder herauszutreten und selbstkritisch uns, das Vorbild der Kinder, unter die Lupe zu nehmen. Ein Satiriker meine einmal, wenn auf den Grabsteinen der Jetztzeit steht „Ruhe sanft“, könnte bei uns, der beschleunigten Generation, wohl stehen „Wollte später dann leben!“ oder, um mit John Lennon zu sprechen „Leben ist das, was passiert, während wir eifrig dabei sind, andere Pläne zu machen“.

„Schwierige“ Kinder

Nossrat Peseschkian, Begründer der „Positiven Psychotherapie“, meinte einmal, dass jedes schwierige Verhalten, das uns ein Kind zeigt, eine Fähigkeit ist, um auf einen Mangel aufmerksam zu machen. Das würde bedeuten, dass uns Kinder, die schwieriges Verhalten zeigen, letztlich auch einen Weg weisen; möglicherweise spiegeln sie auch ihr Umfeld. So könnten zappelnde, anstrengende Kinder vielleicht ein Spiegelbild unseres eigenen chronischen Aktionismus sein, unserer Flucht vor uns selber…

Kinder brauchen ihre Auszeit

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul meint, Kinder in unserer Gesellschaft wären ab zwei Uhr nachmitags über-stimuliert, reiz-überflutet und bräuchten dringend „nichts“, eine Auszeit. Eine Pause, die Heilraum für den Körper und Geist sein kann. Gerade das ist aber oft die Zeit, wo das Freizeit-Programm überhaupt erst losgeht, unter dem Motto „Fernsehen, Besuch, Fußball, Geige, Chinesisch für Windelträger“.

Kinder haben aber grundsätzlich nur zwei wichtige Bedürfnisse, wenn es um ihre „Freizeit“ geht: Das eine ist das Bedürfnis nach Bindung (Nähe, Liebe, Geborgenheit) , das andere ist das Bedürfnis nach Wachstum (Neugierde als Antriebsmotor, Freude am Tun, eigenständig werden).

Mut zur Entschleunigung:

Wir brauchen dringend den Mut zum Vereinfachen, zum Reduzieren auf das Wesentliche – auch dafür sind wir Erwachsenen zuständig. Das uns und den Kindern gemäße Tempo ist ein Tempo der Achtsamkeit – ganz bei einer Sache sein, mit allen Sinnen; die Anerkennung, dass „Talent sich in der Stille bildet“ (Schiller). Zeiten der Stille, wo „gar nichts“ passiert, stellen einen wichtigen Teil im Kinderalltag dar – nichts müssen, sein lassen, lnseln der Ruhe anbieten, zulassen und aushalten.

Hieraus hat sich für mich eine wichtige Regel im Alltag mit Kindern herausgebildet, nämlich: „Kinder nicht beim Nichtstun stören!“ Kinder sind noch Meister der Meditation, des Bei-sich-selber-Seins; können sich in Ruhe mit Dingen auseinandersetzen. Ist diese Ruhe nicht gegeben, verlernen sie die eigene schöpferische Kraft. Wir dürfen nicht vergessen, dass Spielen DIE kindgemäße Lernform ist. Kinder lernen (wenn sie dürfen) alles spielerisch, was sie zum Weitergehen brauchen und können sich so in Ruhe und ohne Anweisungen und Einschränkungen aus der stressigen Aussenwelt mit dem eigenen Wachsen auseinandersetzen.