Wer Erfolg im Leben hat, sollte sich doch eigentlich hauptsächlich freuen. Doch viele Menschen erleben stattdessen das Gefühl, dass sie ihren Erfolg eigentlich gar nicht verdient haben. Diese Menschen haben oft das Impostor-Syndrom: Sie glauben, dass sie allen etwas vorspielen.

Warum das so ist und wie man diese Gedanken bekämpfen kann, hat uns eine Expertin verraten.

Impostor-Syndrom: Das Gefühl, ein Hochstapler zu sein

Erinnert euch kurz an euer letztes Erfolgserlebnis. Das war vielleicht eine bestandene Prüfung, die Zusage zur neuen Wohnung oder eine Beförderung. Was war in diesem Moment eure erste Reaktion? Wart ihr erleichtert? Konntet ihr den Augenblick genießen und habt Luftsprünge oder sogar einen Siegestanz gemacht? Oder war euer erster Gedanke: Das war doch nur Glück!

Wenn ihr euch mit der letzten Antwort am meisten identifizieren könnt, kennt ihr vermutlich auch das Gefühl, eigentlich allen nur etwas vorzumachen, oder? In Wahrheit seid ihr doch gar nicht so talentiert, schlau oder begabt, wie euch andere in der Vergangenheit erklärt haben. Das liegt doch alles nur an Glück und einem trügerischen Image, das ihr aufgebaut habt. Aber irgendwann – da seid ihr euch sicher – wird der Tag kommen, an dem euer Kartenhaus aus Lügen zusammenfallen wird und alle merken, was für ein:e Hochstapler:in ihr eigentlich seid.

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„Ich gehöre hier eigentlich nicht her“

Kommt euch bekannt vor? Dann atmet einmal kurz durch. Denn hinter diesen Gefühlen und Gedanken steckt keinesfalls die Wahrheit. Vielmehr ist es ein Anzeichen für das Impostor-Phänomen oder auch Hochstapler-Syndrom. Darunter versteht man eine „Art Wahrnehmungs- und Denkverzerrung“, erklärt Michaela Muthig. Sie ist Fachärztin für Psychosomatik und Autorin und hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit dem Phänomen auseinandergesetzt.

Sie weiß: Mit Selbstzweifeln, wie sie wohl jede:r aus dem Alltag kennt, hat das Syndrom nur wenig zu tun. „Normale Selbstzweifel sind häufig. Wir alle sind erst einmal unsicher, wenn wir etwas Neues beginnen, wie eine neue Stelle, eine neue Partnerschaft oder eine neue Aufgabe“, erklärt die Ärztin. „Mit der Zeit und mit zunehmenden Erfolgen merken wir aber, dass wir gut genug sind, und die Selbstzweifel lassen nach.“

Das Tückische am Impostor-Syndrom ist aber, dass Erfolgserlebnisse oft genau das Gegenteil bewirken. Betroffene „führen ihre Erfolge zurück auf Zufall, Sympathie oder sonstige Gründe. Dadurch wächst der innere Druck immer mehr“, erklärt die Expertin. Die Betroffenen sind dann überzeugt, dass die Erwartungen ihres Umfelds jetzt noch höher sind – und sie diese nie erfüllen können! Muthig vergleicht das Gefühl mit einer Seifenblase, die immer größer wird, bevor sie irgendwann platzt; denn egal, wie viel Bestätigung Betroffene bekommen, sie sind sich sicher: Sie gehören hier eigentlich gar nicht her!

Wer ist vom Impostor-Syndrom besonders betroffen?

Hinter dem Impostor-Phänomen steckt meist ein komplett verzerrtes Bild von sich selbst sowie eine verzerrte Annahme, was Erfolg denn eigentlich ausmacht. Betroffene sind fest davon überzeugt, dass sie erst dann kompetent sind, wenn sie wirklich alles zu einem Thema wissen, obwohl das natürlich absolut unmöglich ist. „Meist kommen die Gedanken aus der Kindheit, aus der Erziehung oder aus prägenden Erlebnissen. Manchmal sind es achtlos hingeworfene Sätze unserer Eltern oder Lehrer, die wir dann in den falschen Hals bekommen haben“, erklärt Muthig.

Doch das Hochstapler-Phänomen kann auch im Erwachsenenalter entstehen – etwa bei Menschen, die Erfahrungen mit Mobbing oder Bossing gemacht haben. Besonders betroffen sind Personen, die eine Vorreiterfunktion im Leben hatten, erklärt die Expertin; dazu gehören etwa große Geschwister oder das erste Familienmitglied, das ein Studium absolviert. „Sie haben stärker das Gefühl, beobachtet und bewertet zu werden, und wollen Erwartungen nicht enttäuschen“, so Muthig. „Oft fehlt dann auch ein gutes Vorbild, an dem man sich orientieren kann.“

Einige Studien weisen außerdem darauf hin, dass Frauen und Angehörige von Minderheiten häufiger betroffen sind – doch auch Menschen, die Erfolg haben und im Rampenlicht stehen, haben häufig das Impostor-Syndrom. „Prinzipiell kann man sagen, je höher an der Spitze man ist, desto stärker ist man der Bewertung anderer ausgesetzt und desto mehr können sich diese Selbstzweifel und das Gefühl, ein Hochstapler zu sein, einschleichen“, so die Expertin.

Irgendjemand ist immer besser, schlauer, hübscher, cooler

Verstärkt wird das Ganze dann durch ständiges Vergleichen mit dem Umfeld. Egal, ob am Arbeitsplatz, an der Uni oder im Freundeskreis: Es gibt immer Menschen, mit denen wir uns vergleichen können. Menschen mit Impostor-Syndrom erkennen dann schnell: Diese und jene Person ist weiter im Studium, diese ist erfolgreicher in der Liebe, und der beste Freund hat einen besser bezahlten Job!

In einer Leistungsgesellschaft wie der unseren ist es eigentlich unmöglich, keine Vergleiche zu ziehen, doch Menschen mit dem Hochstapler-Syndrom verbinden diese schnell mit einem Minderwertigkeitsgefühl und der toxischen Gewissheit, dass sie nicht an denselben Ort gehören wie die „Erfolgsmenschen“. Ganz besonders häufig sind solche Vergleiche übrigens in den sozialen Medien – denn ob man will oder nicht: Die Bilder und Videos, die wir täglich konsumieren, zeigen uns Leben auf, die wir unterbewusst natürlich dem eigenen gegenüberstellen.

Burnout, Depression und Angststörung als mögliche Folgen

„In Studien hat man festgestellt, dass häufiger Gebrauch von Social Media die Selbstzweifel und damit verbunden auch das Impostor-Phänomen verstärken können“, erklärt Muthig. „Auch wenn wir genau wissen, dass die Bilder retuschiert und sorgfältig ausgewählt wurden, haben sie Einfluss auf uns und unsere Psyche. Wir fühlen uns gegenüber dieser Scheinwelt dann plötzlich minderwertig.“

Ein Gefühl, das dramatische Folgen haben kann. Denn obwohl es für das Hochstapler-Syndrom keinen eigenen Krankheitswert gibt, kann es heftige Folgen für die Psyche haben, betont die Expertin. „Durch den ständigen Leistungsdruck kann es zum Burn-out kommen. Die Selbstzweifel können in einer Depression oder Angststörung münden. Auch Schlafstörungen und starke innere Unruhe sind sehr häufig.“

Tipps gegen das Impostor-Syndrom

Aber es gibt auch gute Nachrichten. Denn so einnehmend die Gedanken sein können, man kann etwas dagegen tun. „Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es zwar immer wieder Situationen geben wird, die die alten Gedanken und Gefühle des Nicht-gut-genug-Seins wieder hochholen – vor allem, wenn es neue Herausforderungen gibt. Aber wir können lernen, sie nicht mehr zu ernst zu nehmen und als das zu erkennen, was sie sind: verzerrt und nicht der Realität entsprechend“, erklärt Muthig.

Für sie liegt die Lösung vor allem in einem Punkt: der direkten Auseinandersetzung. Denn sind die Gedanken offen aufgedeckt, verlieren sie schnell an Macht. Muthig rät dazu, sich ganz offensiv auf die eigenen Stärken zu konzentrieren und diese festzuhalten, etwa mit einem Erfolgstagebuch. Wer schwarz auf weiß die eigenen Erfolge im Blick hat, hat einen Beweis gegen die negativen Überzeugungen.

Ehrliches Feedback oder Fishing for compliments?

Ebenfalls hilfreich kann es sein, „sich Feedback von anderen zu holen, um dies mit dem eigenen Selbstbild abzugleichen“, erklärt Muthig. Und nein, das hat nichts mit dem berühmten „Fishing for compliments“ zu tun. Vielmehr kann diese Kommunikation zeigen, wie verzerrt die eigene Wahrnehmung ist. Denn auch, wenn Menschen mit Hochstapler-Syndrom das nur ungern akzeptieren: Ein Lob ist nur äußerst selten eine gemeine Lüge.

Vielmehr wollen Menschen einen mit Lob stärken und die gute Arbeit hervorheben; Arbeit, für die man selbst verantwortlich ist und die keine glückliche Fügung des Universums ist. Die Karriereleiter lässt sich nicht durch pures Glück hinaufklettern, und hinter einer erfolgreichen Prüfung steckt immer der eigene Einsatz. „Glück kann zwar dazu beitragen, indem wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind, aber Glück allein – ganz ohne das entsprechende Wissen – führt in der Regel nicht dazu, dass wir einen Job oder eine Beförderung oder eine Auszeichnung erhalten“, betont auch Expertin Muthig.