Good Pos(e)ture: Wie Körperhaltung zum Welnesstrend wurde
Social Media scheint ein neues Schönheitsideal gefunden zu haben. Denn Tipps und Tricks für eine „gute“ Körperhaltung gehen gerade viral.
Warum das aber nicht nur gute Seiten hat, haben uns zwei Expertinnen verraten.
„Gute“ Körperhaltung wird als Schönheitsideal gefeiert
Brust raus, Bauch rein, Schultern zurück, Kinn nach oben, aber nicht zu weit; und jetzt einfach entspannen. Ganz easy, oder? Das Thema gerader Rücken und aufrechte Körperhaltung begleitet Menschen schon seit Jahrhunderten – und war immer schon eine ziemliche Challenge. Im Großbritannien des 19. Jahrhunderts galt eine „gute“ Haltung etwa als das Must-have, wenn man in der Gesellschaft jemand sein wollte. Denn die aufrechte Haltung war ein Zeichen von Anmut und Grazie (und für Frauen auf dem Heiratsmarkt absolut notwendig).
Um sie zu erreichen, ging man in Epochen wie der Regency Era auch schon einmal ziemlich extreme Wege. Wir alle kennen wohl Bilder von Frauen mit Büchern, Tellern oder Tassen auf dem Kopf, die den aufrechten Gang üben, und auch das Korsett war eine beliebte Hilfe, um nicht nur eine schmale Taille zu forcieren, sondern zugleich eine starre, gerade Haltung. Hinfläzen war in diesen Teilen nämlich ein Ding der Unmöglichkeit. Aber das Korsett war bei Weitem nicht die Spitze des schmerzenden „Haltungseisbergs“. Für einen geraden Rücken und einen langen Hals griff man damals auch schon mal zu Metallplatten in der Kleidung. In Deutschland sollte währenddessen der sogenannte Geradhalter beim Sitzen für eine aufrechte Haltung sorgen. Erfunden vom Orthopäden Moritz Schreber bestand dieses „Bekleidungsaccessoire“ aus Eisenstangen und einer Schlaufe für den Kopf, die bei Kindern das aufrechte Sitzen unterstützen sollten.
Zwischen Hinfläzen und kerzengeradem Stehen
Für die meisten von uns sind diese Extreme der „guten“ Haltung aber wohl etwas, das wir nur aus Geschichtsbüchern kennen. Denn die 2000er-Jahre brachten den krassen Kontrast zur „perfekten Haltung“; die Zeit des Herumlungerns wurde eingeläutet und krumme Schultern waren plötzlich en vogue. „Es ist in Mode gekommen, so zu stehen, als ob einen gar nichts interessiert“, hieß es etwa 2005 in einem Artikel der Chicago Tribune. Dinge wie Haltungsturnen hatten wohl für viele denselben Coolnessfaktor wie ein Ausflug zur Schlagernacht oder das Tragen von Unterleibchen. Doch wir wissen es alle: Das Besondere an Trends ist, dass sie immer wieder zurückkommen. Und genauso, wie Low-Rise-Jeans in den vergangenen Jahren ihr großes Comeback feierten, steht jetzt auch wieder die gerade Körperhaltung im Fokus der
Nach der Phase des Indie Sleaze und des coolen Rumlungerns in den frühen 2000ern heißt es aktuell wieder: Nur ein gerader Rücken kann entzücken! Zahlreiche Online-Creators teilen derzeit Sport- und Dehnübungen, um die abgerundeten Schultern oder die ersten Ansätze eines Buckels loszuwerden, sie geben Tipps, wie sich eine aufrechte Haltung erzielen lässt, und sparen auch nicht mit jeder Menge Tools, die man dafür braucht. Anstelle des Buchs auf dem Kopf oder des Geradhalters für zu Hause werden heute Dinge wie Rückenglätter, Schultergürtel und Dehnhilfen als Zaubermittel für den geraden Rücken vermarktet.
Und auch das Haltungsturnen hat ein Upgrade bekommen. „Klassisches Haltungsturnen war früher negativ konnotiert und wurde mit strengen, eintönigen Übungen in Verbindung gebracht“, erzählt auch die Physiotherapeutin Iris Nemeth. Im Laufe der vergangenen Jahre habe sich das Gesundheitsbewusstsein jedoch verändert, auch durch Social Media. Die Physiotherapeutin betont, dass die unterschiedlichen Plattformen jetzt „zusätzliche Bewegungsangebote“ schaffen.
Quick Fixes auf Social Media
Haltungsturnen liegt also total im Trend – alleine auf Tiktok hat der Hashtag #posturecorrection mehr als 1,4 Milliarden Aufrufe. Aber auch für alle, die nicht viel Zeit in das Training investieren wollen, gibt es online einige Quick Fixes. Und zwar ganz nanz nach dem Motto: Fake it till you make it. Eine dieser viralen Methoden ist das Mewing: Dabei wird die Zunge auf den Gaumen gepresst. Das Ergebnis: eine schärfere Jawline, das Doppelkinn wird für einen Augenblick weniger und für den Moment wirkt die Haltung deutlich graziler. Eine permanente Lösung ist das zwar nicht, für das Insta-Bild reicht es aber.
Online kursieren aber noch mehr – teils extremere – Methoden. Seit dem Sommer 2023 ist etwa eine Behandlung in aller Munde: Barbie Botox! Ursprünglich bekannt als Traptox wird dabei Botox in den Trapezius-Muskel im Bereich des Schulterblatts injiziert. Der obere Anteil des Muskels wird dadurch abgeschwächt. „Dadurch schrumpft er ein kleines bisschen“, erklärt die Schönheitschirurgin Jennifer Kager. „Das kann durchaus einen schlankeren Hals verursachen, und grazilere Schultern.“ Kager führt dieses Prozedere mittlerweile seit einem Jahrzehnt durch. Denn Traptox wird oft bei extremen Verspannungen in diesem Körperbereich sowie bei Kopfschmerzen angewendet. Auf Social Media wird es aber auch als Quick Fix für das Erreichen eines Schwanenhalses und einer verbesserten Haltung beworben.
Gesundheitliche Vorteile oder nur ein ästhetisches Ideal?
Die Sozialen Medien haben also ein neues Ideal gefunden, nach dem gestrebt wird. Verpackt als Wellness- und Lifestyletrend hängt die gerade Haltung natürlich auch immer mit einem gewissen Auftreten oder einer Wirkung zusammen, die man online sieht und auch selbst erzielen möchte. „Social Media trägt da einen großen Teil dazu bei. Das ist etwas, was man in unserem Bereich der Medizin sowohl positiv als auch negativ sehen kann“, betont auch Kager. Denn einerseits sei das Wissen über Eingriffe und Möglichkeiten deutlich größer als früher. Andererseits „ist es aber natürlich auch ein bisschen ein Fluch“, erklärt die Schönheitschirurgin – denn viele Patient:innen sind „von ihrer Meinung überzeugt und denken, dass gewisse Bilder zu erzielen sind, nur weil sie auf Social Media sichtbar sind, und vergessen, dass hier auch mit Photoshop gearbeitet wird oder die Fotos für Marketingzwecke verwendet und unrealistische Bilder gezeigt werden.“
Für die Schönheitschirurgin ist deshalb ein intensives Vorgespräch wichtig. In diesem kann abgeklärt werden, ob es sich wirklich um medizinische Ziele handelt oder die Interessierten nur einem weiteren ästhetischen Trend blind nachlaufen. „Wenn etwa eine Patientin zu uns kommt und sagt, sie will unbedingt Barbie Botox haben, damit der Hals um zwei Zentimeter länger ist und sie dann endlich dieses eine Kleid anziehen kann, dann ist das sicher nicht die richtige Indikation“, so Kager. Aus medizinischer Sicht sieht sie jedoch viele Vorteile durch Barbie Botox; wie etwa die besagte Behandlung von starken Verspannungen und damit verbundenen Schmerzen.
„Gute“ Körperhaltung: Der nächste toxische Trend?
Grundsätzlich, betonen beide Expertinnen, habe es aber auch positive Seiten, dass die Körperhaltung wieder im Fokus der Aufmerksamkeit steht. Denn eine aufrechte Haltung hat sowohl körperlich als auch mental Vorteile. „Die Körperhaltung sagt sehr viel darüber aus, wie es uns geht und ob wir uns wohlfühlen“, betont Kager. Auch Nemeth spricht von „vielen, vor allem präventiven Effekten, von einem gesunden Selbstwertgefühl bis hin zur Vermeidung von Überlastungssymptomen wie zum Beispiel Schulterschmerzen durch einen verkürzten Brustmuskel aufgrund einer gekrümmten Haltung am Arbeitsplatz“.
Die gerade Haltung aber nur aus ästhetischen Trendgründen anzustreben, empfiehlt keine der Expertinnen. Denn so viel ist klar: Nicht jede:r kann diese online glorifizierten Ideale wie einen Schwanenhals oder die perfekte Haltung auch wirklich erreichen, und das sollte auch nicht das Ziel sein. Stattdessen sollte der Fokus auf den anderen Benefits liegen, die Haltungsturnen und Co mit sich bringen können. Für Nemeth ist die „regelmäßige Bewegung sehr bedeutend für den Aufbau und die Erhaltung stabiler Körper- und Gewebsstrukturen, wie Sehnen, Knorpel, Menisci oder Bandscheiben.“ Und davon kann man langfristig deutlich mehr Vorteile haben als durch einen Picture-Perfect-Schwanenhals.