Faszination True Crime: Woher kommt unsere Lust am wahren Verbrechen?
Er war auf der dunklen Straße und er war allein. Allein? Er dachte, ein Geräusch zu hören, und hielt inne, aber da war nur das laute Pochen seines Herzens. Plötzlich vernahm er ein sausendes Geräusch hinter sich – da! Etwas Blitzendes in der Luft. Dann eine kalte Klinge, die ihm die Kehle aufschlitzte. Willkommen in der Welt des True Crime – und einer Fangemeinde, deren Droge das pure Gänsehautfeeling ist.
Warum finden wir True Crime so faszinierend? Wir sind der Lust am wahren Verbrechen auf den Grund gegangen.
True Crime: Der Faszination an wahren Verbrechen auf der Spur
Nach einem anstrengenden Tag will man doch einfach nur entspannen. Also machst du es dir auf der Couch gemütlich, stellst die Glotze an oder setzt dir die Kopfhörer auf – und beamst dich in die Welt der blutigen Verbrechen, bis dir langsam die Augen zufallen. What?! Was für einige unvorstellbar ist, gehört für andere zum Abendritual.
So wie für Lena B. Eine ordentliche Portion an wahrem Verbrechen holt sie erst so richtig runter. Sabine F. hingegen schätzt True-Crime-Podcast-Formate vor allem beim Kochen. Während der Mörder ein wahres Gemetzel anrichtet, schnippelt sie das Gemüse fein oder rührt in der Tomatensauce. Mhm, lecker! „True Crime, das ist das wahre Leben“, meint Sabine. Die Tatorte sind Plätze, an denen sie tagtäglich vorbeigeht; die Verbrechen werden verübt von Personen, die aussehen wie du und ich. Und wer weiß, welch dunkles Doppelleben der nette Briefträger führt?
True-Crime-Geschichten sind Reisen in die tiefsten Abgründe einer fremden Person, und diese „Reisedroge“ scheint derzeit allgegenwärtig – fürs Auge, wie in der ästhetisch inszenierten 70er-Verfilmung The Serpent auf Netflix, oder dank zahlreicher Podcasts stimmungsvoll-gespenstisch fürs Ohr. Aber was macht die Faszination an wahren schaurigen Spektakeln aus? Und wie viel Mordlust steckt eigentlich in uns? Wir haben uns auf Spurensuche begeben.
Verbrechen sind Psychologie Pur
Einer, der es wissen muss, der das Böse und die Faszination dahinter ziemlich gut kennt, ist Österreichs Star-Profiler Professor Reinhard Haller. Drei Gründe sind seiner Meinung nach für die Faszination an True-Crime-Formaten ausschlaggebend.
- An erster Stelle „sind es schlichtweg spannende Geschichten“, es zählen also auch zwischenmenschliche Aspekte; der Täter wird (hoffentlich) überführt und zur Strecke gebracht.
- Verbrechen sind für ihn aber auch immer „Psychologie pur“, denn „im Verbrechen kommen all die Dinge, die wir im täglichen Leben haben – etwa Eifersucht, Neid, Kränkung, Hass, Rücksichtslosigkeit und Rache – in verdichteter Form zur Darstellung; all diese menschlichen Urbedürfnisse.“
- Der dritte und entscheidende Punkt aber ist für den Psychiater, dass „jeder Mensch spürt, dass er auch dunkle Seiten in sich hat, die berühmten seelischen Abgründe, die man aber in der Regel nicht kennt, die verdrängt sind. Insofern sind diese Kriminalgeschichten auch Spiegel, in denen man zu finden hofft, was man in sich selbst zumindest unbewusst vermutet.“
Klingt einleuchtend, wenn auch etwas besorgniserregend. Aber wie verhält es sich mit jenen Leuten, die Gemetzel-Konsum einfach zur Entspannung nutzen? Jenen, die ein wohliger Schauder überkommt, wenn der Killer zusticht? Haller spricht hier von einer sogenannten „Angst-Lust-Spannung“, ganz ähnlich, wie das beim Spielen im Casino der Fall ist: „Dieser Zustand hat durchaus einen entspannenden Effekt, er rückt einen heraus aus den täglichen Belastungen und Sorgen.“
Jeder Mensch spürt, dass er natürlich auch dunkle Seiten in sich hat.
Professor Reinhard Haller
Sind wir alle Psychos?
Müssen wir uns nun Sorgen machen, wenn wir diese blutigen Storys anziehend finden? Haller beruhigt: „In der Regel lösen solche Geschichten das Gefühl des angenehmen Schauers aus. Sprich: ‚Gott sei Dank bin ich kuschelig zu Hause! Hier ist es sicher – die böse Welt ist da draußen, über sie erhebe ich mich jetzt sozusagen, kann jetzt beruhigt über sie staunen!‘“
Schon seltsam: Wir lehnen Gewalt ab und verfolgen doch gewaltsame Verbrechen – wie passt das zusammen? Professor Haller erklärt dies durch ein sehr hohes Aggressionspotenzial, das in uns schlummert: „Das Böse, das Aggressionspotenzial, ist in den Menschen vorhanden, weil es sozusagen auch ein Urquell des Lebens ist. Früher haben wir es durch harte körperliche Arbeit und in Kriegen ausgelebt – heute leben wir es im sportlichen, wirtschaftlichen Wettkampf, in kulturellen Leistungen und zum Teil im Virtuellen oder in unserer Fantasie aus.“
Der große Bruder des True Crime
Ab Ende der 60er kamen Monat für Monat ganze Familien vor dem Fernseher zusammen, wenn Eduard Zimmermann ungeklärte Verbrechen, anhand von Laienschauspielern rekonstruiert, zeigte. „Aktenzeichen XY … ungelöst“ gilt als großer Bruder der Faszination True Crime. Während sich das Format auf sachlicher Ebene den Verbrechen widmet, blicken neue Formate in die Köpfe der Täter oder zeigen gesellschaftliche Missstände auf. 2014 löste der True-Crime-Podcast Serial einen neuen Hype aus. Der Stern landete 2015 mitten in der Zeitungskrise mit seinen „Crime“-Formaten einen Erfolgstreffer.
Aggressivität hat für Frauen auch eine gewisse Faszination.
Professor Reinhard Haller
True Crime ist Frauensache
Besonders beliebt ist das Genre bei Frauen: Stern Crime verbucht mehr als 80 Prozent weibliche Leser. Haller vermutet, dass Frauen generell „mehr Interesse an psychologischen Problemen und zwischenmenschlichen Themen haben als Männer“. Als weiteren Grund nennt Haller den Aspekt, dass sich das Böse zwar zu Hause abspielt, aber nicht im geborgenen Nest.
„Aggressivität hat für Frauen auch eine gewisse Faszination. Das sieht man immer wieder, wenn die großen Verbrecher Hunderte Heiratsanträge bekommen – der starke, der mächtige, der gewalttätige Mann hat durchaus eine gewisse Faszination.“ Jack Unterweger war so ein Popstar unter Österreichs Gewaltverbrechern. Im Profil-Artikel „Jack Unterweger: der Party-Killer“ beschreibt die Journalistin Margit Haas Unterwegers Wirkung auf die Damenwelt während seiner Freilassung: „Schon bei unserer ersten Begegnung in einer Bar konnte ich beobachten, wie er innerhalb weniger Minuten mehrere Telefonnummern zugesteckt bekam. Besonders die Damen aus der besseren Gesellschaft wollten alle gern aus ihren faden Ehen ausbrechen und mit einem echten Mörder ins Bett gehen.“
Der Fall Jack Unterweger
Haller war während Unterwegers fast zweijähriger Untersuchungshaft in Graz sein Psychiater. Dort sollen täglich um die 40 Zuschriften von Frauen eingetroffen sein – Nacktfotos und Zuschriften von Nonnen inklusive. Haller erklärt diesen weiblichen Zuspruch unter anderem damit, dass der „tötende Mann auch als etwas besonders Männliches gilt“, aber auch „Mitleid oder Therapiebedürfnisse“, wenn der Täter einmal gefasst ist, spielen laut Haller eine Rolle. „
Und dass sie hier endlich jemanden haben, der ihnen nicht mehr davonlaufen kann!“, schmunzelt Haller. „Denn es sind auffallend oft Frauen, die Enttäuschungen hinter sich haben oder verlassen worden sind“ – diese Faszination, die Mörder auf Frauen haben, machen sich auch Netflix und Co zunutze.
Der Killer im Designerkostüm
Die Killer werden – wie einst Jack Unterweger – oftmals von den Medien stilisiert. Wie etwa auch die True-Crime-Miniserie „Die Schlange“, die den den „Bikinimörder“ Charles Sobhraj ins rechte Seventies-Licht rückt. Der Mörder mitsamt Komplizin wird hier sehr attraktiv besetzt und ästhetisch in Szene gesetzt. Haller findet diese Entwicklung problematisch: „Dass man eben das Böse nicht in seiner hässlichen, in seiner realen Form zeigt, sondern ein Stück weit stilisiert, ist nicht unbedenklich. Das Entscheidende ist ja, dass die Menschen sich auch nicht einfühlen können in solche Kunstgestalten –und andere Menschen
zu töten heißt immer, sie irgendwie zu entmenschlichen.“
Sind wir alle potenzielle Killer?
Zum Abschluss liegt uns noch eine Frage auf der Zunge: Steckt in jedem von uns ein Mörder? Haller gibt Entwarnung: „Das muss differenziert betrachtet werden, denn Mord setzt immer eine Absicht, einen Plan voraus.“ Zu einem „Töter“ könne aber potenziell jeder werden, etwa wenn wir selbst in Notwehr handeln et cetera – manchmal gibt es „bestimmte Entwicklungen, Situationen, wo dieses nach wie vor aktive, in unserer Seele schlummernde Böse zum Durchbruch kommen kann.
Wenn wir heftig erregt sind, wenn wir uns gekränkt fühlen, wenn wir unter Eifersucht leiden, wenn wir berauscht sind, dann sind wir nicht mehr Herr in unserem Haus.“ Das gilt auch für autoritäre Strukturen: „Wenn das Böse autorisiert ist, dann kann jeder normale Mensch auch zum Kapitalverbrecher werden“, ist sich Haller sicher.