Ein Beziehungsexperte erklärt: Deshalb ist Sex wichtiger als Liebe
Wann immer Beziehungen scheitern, spielt mangelnde Leidenschaft eine entscheidende Rolle. Besonders in Langzeitbeziehungen unterschätzen Paare, wie wichtig Sex für die Beziehung ist. Wir haben einen Beziehungscoach gefragt, warum das so ist. Was wir tun können, um die Intimität in unseren Beziehungen neu zu beleben – und wann es besser ist, uns zu trennen.
Dominik Borde ist Gründer und Coach der Beziehungs Academy SozialDynamik mit Sitz in Wien. In 8 Fragen beantwortet er uns, warum Sex für langfristig glückliche Beziehungen so wichtig ist.
1. Warum scheitern Beziehungen so oft an mangelnder Lust aufeinander?
Die meisten Paare haben dieses Problem: Ihr Sexleben ist mit der Zeit eingeschlafen. Sie tun sich schwer damit, wieder anzufangen. Das ist normal: Was du nicht gebrauchst, verlierst du irgendwann. Oft fühlt es sich fast peinlich und unangenehm an, wenn man nach einer langen Pause wieder versucht, leidenschaftlich mit dem Partner oder der Partnerin zu sein. Man fremdelt miteinander. Doch wer jetzt aufgibt, riskiert, die Beziehung komplett zu verlieren. Denn der Punkt ist: Sex ist für die Paarbeziehung nicht das Wichtigste, aber Sex ist wichtiger als Liebe. Denn Sex ist der Gegenspieler zum Tod. Sex ist Freude und Lebenslust pur, das Leben an sich, das sich auf diese Weise in unseren Beziehungen zeigt. Fehlt der Sex, fehlt der Beziehung das Leben.
Langfristig erfolgreiche Liebesbeziehungen brauchen die Zärtlichkeit, die Leidenschaft und die Nähe, die wir beim Sex erleben. Fehlt die Sexualität, kommt es in den meisten Beziehungen irgendwann zum großen Knall. Einer von beiden geht fremd, es kommt heraus und schließlich steht die ganze Beziehung infrage. Bei Paaren, die es schaffen, ihre Leidenschaft zu erhalten, passiert so etwas selten.
2. Warum ist Sex für die Beziehung so wichtig?
In sämtlichen Paarbeziehungen, die scheitern, ist Sexualität ein zentrales Thema! Warum? Weil die Sexualität der Urknall war für die Beziehung. Ihr habt euch ja nicht kennengelernt als Putzkräfte, Ratenzahler oder Aufzuchtsgemeinschaft für Kinder. Sondern ihr habt euch ineinander verliebt, weil ihr euch emotional und sexuell zueinander hingezogen gefühlt habt. Dieses Kribbeln des Anfangs immer wieder neu zu entfachen und die Leidenschaft durch neue Impulse zu erhalten, ist das Geheimnis langfristig glücklicher Beziehungen. Freundschaft allein ist zu wenig.
3. Wann ist es besser, sich zu trennen?
Wenn ihr keinen Sex mehr miteinander wollt, weil euch das zu sehr stresst oder ihr euch nicht mehr attraktiv findet, und ihr kein Interesse mehr daran habt, an diesen Umständen für eure Beziehung zu arbeiten – dann hört auf, euch zu quälen und seid ehrlich miteinander. In diesem Fall ist es Zeit, ihn oder sie gehen zu lassen. Dann könnt ihr weiter gute Freunde sein und gegebenenfalls gute Eltern, aber sexuell werdet ihr eben woanders glücklich.
4. Und was ist, wenn wir unsere Beziehung nicht aufgeben wollen?
Wenn ihr unglücklich mit eurem Sexleben seid, eure Beziehung aber nicht aufgeben wollt, dann müsst ihr aktiv euer Sexleben verbessern. Dazu können sich beide die Frage stellen: Was brauche ich von meinem Partner oder meiner Partnerin, damit ich mich ihm oder ihr wieder öffnen kann oder will? Es sind unterschiedliche Gründe, die dazu führen, dass wir die Lust auf Sex verlieren. Oft sind es sich verändernde Lebensumstände, wie Kinder, die dazu führen, dass wir eine Weile keinen Kopf mehr für Sex miteinander haben. Das ist ganz natürlich und völlig in Ordnung. Doch wenn wir uns an die großen Veränderungen solcher Entwicklungen gewöhnt haben, müssen wir aktiv etwas dafür tun, unsere sexuelle Lust mit unserem Partner oder unserer Partnerin wiederzubeleben. Beziehungen werden entweder B wie besser oder B wie beendet. Und „Leider geil“ gewinnt.
5. Was, wenn sich unsere Lust verändert hat?
Es kommt vor, dass wir uns im Laufe der Zeit eine andere Form der Sexualität wünschen, uns aber nicht trauen, mit unserem Partner oder unserer Partnerin darüber zu sprechen. Auch das ist normal, denn je länger unsere Beziehungen andauern, umso mehr haben wir zu verlieren und umso weniger trauen wir uns, etwas zu offenbaren, das unseren Partner oder unsere Partnerin vielleicht erschrecken oder überfordern könnte. Natürlich müssen wir nicht jede sexuelle Fantasie miteinander teilen. Aber wenn du euren realen Sex zu langweilig findest, trau dich darüber zu sprechen, wovon du insgeheim träumst! Ich verspreche dir: Dein Partner oder deine Partnerin wünscht sich sicherlich genauso sehr für dich ein guter Liebhaber oder eine Liebhaberin zu sein. Sie oder er wird dir dankbar sein, wenn du dich traust, über deine sexuellen Wünsche zu sprechen.
6. Warum neigen wir zu festgefahrenen Verhaltensmuster beim Sex?
Oft leiden unsere Beziehungen auch unter schlechten Erfahrungen in unserer Kindheit. Die führen dazu, dass wir in Paarbeziehungen unglückliche Handlungsmuster an den Tag legen, die zu Streit und Missverständnissen führen. Dazu ein Beispiel aus unserem Coaching: Vor einiger Zeit war ein Ehepaar bei uns. Die beiden waren schon eine Weile verheiratet und an sich glücklich miteinander. Doch sexuell lief es nicht gut zwischen den beiden. Sie war eher der Sex-Vamp und stand auf härteren Sex, er war eher der zärtliche Liebhaber. Anfangs fand sie es aufregend, ihn zu verführen. Doch mit der Zeit wünschte sie sich mehr Initiative von ihm. Damit fühlte er sich aber völlig überfordert.
Im Coaching stellt sich heraus: Sie hatte als Kind sexuellen Missbrauch in einer zärtlichen Form erlebt. Und zwar mit heimlichen Streicheleinheiten unter der Decke und Hoppe-Reiter-Spielchen. Darum konnte sie mit der zärtlichen Art ihres Mannes nicht umgehen. Er wiederum hatte als Kind erlebt, dass seine Mutter ihn immer wieder zurechtwies, wenn er allzu männlich und stark auftrat. Seine Mutter war sehr unglücklich mit seinem sehr dominanten Vater. Sie wollte damit verhindern, dass ihr Sohn so werden würde wie ihr Mann. Klar, dass diese ungünstigen Kindheitsprägungen den beiden als Erwachsene Schwierigkeiten machten und schließlich dazu führten, dass die beiden lieber auf den Sex verzichteten.
Das Beispiel ist extrem. Doch bei den meisten Menschen ist es so, dass sie in ihrer Kindheit ungünstige Beispiele für Beziehungen erleben. Als Erwachsene wissen sie dann nicht, wie sie Beziehungen auf gute Art gestalten können. Oder sie folgen unbewussten Handlungsmustern, die ihnen in Beziehungen Schwierigkeiten machen.
7. Wann kann professionelle Unterstützung helfen?
Größtenteils sind wir uns überhaupt nicht bewusst, dass es in vielen Fällen Prägungen unserer Kindheit und Jugend sind, die uns blockieren und immer wieder zu Missverständnissen und unglücklichen Beziehungen führen. Die gute Nachricht ist: Wenn wir diese Prägungen erkennen, können wir sie sehr gut lösen und hinter uns lassen. Wenn deine Beziehung schon lange unter Streit und mangelnder Leidenschaft leidet oder deine Beziehungen immer wieder an den gleichen Themen scheitern und du nicht weiter weißt, ist es keine Schande, sondern eine gute Idee, professionellen Rat zu suchen.
8. Was aber, wenn mir die Lust auf Sex fehlt?
In der Sexualität bestimmt immer der- oder diejenige, die weniger will. Wenn du deutlich weniger Sex willst als dein Partner, mach dir klar, dass es kein Wunder ist, wenn er darunter leidet. Stell dir die Frage: Was brauche ich, damit es besser wird? Du musst nach etlichen Jahren nicht so viel Sex haben wie am Anfang eurer Beziehung, als eure Hormone euch ganz von allein in einen Liebesrausch versetzten. Aber wenn ihr die Leidenschaft in eurer Beziehung retten wollt, braucht eure Beziehung Entwicklung. Geht miteinander in die Tiefe, probiert Neues aus, lasst euch von Büchern, Filmen, Workshops inspirieren.
Selbst wenn dein Mann oder deine Frau der schönste Mann oder die schönste Frau auf Erden ist – irgendwann kennst du ihn oder sie und es braucht neue Reize, um Lust auf Sex miteinander zu haben. Und dann ist es die einzige Möglichkeit in einer langen Beziehung, miteinander neue Grenzen auszuloten. Ihr müsst gemeinsam wachsen, ihr müsst euch des Werts eurer Beziehung bewusster werden. Ihr müsst über den Punkt des hormonellen Hochgefühls hinauskommen. Wenn ihr das schafft, wird eure Sexualität mit der Zeit zu einem wunderschönen Ort. Einem Ort, an den ihr gemeinsam geht, um euch Gutes zu tun und eure Liebe voller Leidenschaft zu leben.