„Die Aussprache“: Kann man seinem Vergewaltiger jemals verzeihen?
Das neue Kinodrama „Die Aussprache“ widmet sich einer extrem bedrückenden Frage: wie geht man mit einem jahrelangen Missbrauch um? Für die intime und beklemmende Auseinandersetzung ist der Film jetzt für zwei Oscars nominiert.
Wir haben uns im Filmcheck angesehen, ob „Die Aussprache“ diese Oscars verdient hätte.
„Die Aussprache“: Wie können sich Frauen gegen ihre Vergewaltiger wehren?
Wir warnen euch gleich vor: Wenn ihr auf der Suche nach einer lustig-lockeren Ablenkung am Wochenende seid, ist „Die Aussprache“ definitiv nicht der richtige Film für euch. Denn kaum eine Produktion der vergangenen Monate geht so tief unter die Haut wie diese. „Die Aussprache“ zeigt eine Kommune im Jahr 2010. Abgeschieden von der restlichen Zivilisation leben die Frauen und Männer eine Art Zeitreise. Sie kommen ohne Elektrizität aus, leben von den Erträgen auf ihrem Land und bewegen sich mithilfe von Pferdekutschen fort. Nur die Jungs dürfen eine Schulbildung genießen, Frauen und Mädchen können meist noch nicht einmal lesen. Und das, obwohl sie den gesamten Haushalt führen, sich um die Ernte, das Essen und die Männer der Kommune kümmern.
Geprägt ist die Gemeinschaft von religiösen Idealen und Vorstellungen, dementsprechend wenig wird über das Thema Sexualität gesprochen. Als einige Frauen dann mit Verletzungen, Wunden und blutenden Intimbereichen aufwachen, ist der erste Weg nicht der zur Polizei. Stattdessen wird den jungen Frauen eingeredet, dass sie sich die Gewalt selbst zugefügt hätten, alles nur eine Einbildung sei oder es sogar das Werk von Geistern oder Satan höchstpersönlich sei.
Und das funktioniert auch – zumindest so lange, bis ein junges Mädchen eines Nachts einen Mann bei der versuchten Vergewaltigung erwischt und die Lüge auffliegt. Die Männer der Kommune betäubten die jungen Frauen in der Nacht, bevor sie sie brutal misshandelten und vergewaltigten. Jener Mann, der erwischt wurde, verpetzt die anderen Schuldigen, die sich dann vor der Polizei rechtfertigen müssen. Doch statt Solidarität mit den Frauen zu zeigen, stellen sich die Männer auf die Seite ihres Geschlechts und folgen den Schuldigen, um sie aus der drohenden Haft zu befreien.
Die Frauen werden also zurückgelassen und vor die Wahl gestellt: entweder sie bleiben in der Kommune und verzeihen den Missbrauch – oder sie verlassen die Gemeinschaft.
Kämpfen oder flüchten?
Und genau hier setzt die Handlung von „Die Aussprache“ an. Denn die Frauen beschließen, über diese Entscheidung abzustimmen. Sie haben dafür drei Varianten ausgearbeitet: bleiben und verzeihen, gegen die Männer kämpfen oder die Kommune verlassen. Es ist unentschieden zwischen Option zwei und drei. Welche es wird, sollen acht Frauen aus der Kommune ausdiskutieren. Und schnell wird klar: es ist die schwerste Entscheidung, die diese Frauen jemals treffen werden. Denn sie verändert ihr Leben für immer. Was folgt sind Monologe und Dialoge unter den Frauen, die einen ganz tief betreffen und immer wieder schmerzhaft verdeutlichen, dass es hier um eine Thematik geht, die aktueller und relevanter wohl nicht sein könnte.
Denn kann man den überhaupt den Menschen verzeihen, die den eigenen Körper wieder und wieder geschändet haben? Die keinerlei Respekt vor einem selbst hatten und einen stattdessen in der Nacht mit Tierbetäubungsmitteln willenlos gemacht haben. Kann man den Menschen, die einem versichert haben, dass das alles nur Einbildung sei, denn jemals vertrauen? Kann ein Gott das denn überhaupt verlangen?
Die körperlichen und mentalen Spuren des Missbrauchs
Und wenn verzeihen außer Frage steht: Wie können Frauen Macht zurückgewinnen, die ihnen nie gegeben wurde? Kann ein Kampf denn überhaupt eine Lösung sein, wenn sie eigentlich wissen, dass sie den Kampf niemals gewinnen können? Und wenn nicht: sind die gläubigen Frauen in der Lage, ihre Kommune zu verlassen, obwohl das bedeutet, exkommuniziert zu werden? Können sie überhaupt ein neues Leben ohne Männer anfangen?
Man sieht: es gibt einige Aspekte zu beachten. Und die acht Frauen diskutieren jeden Aspekt der Entscheidung im Detail und anhand eigener Erfahrungen. Immer wieder sieht das Publikum in beklemmenden Rückblicken, welches Ausmaß der Missbrauch der Männer auf die Frauen hatte. Da wäre etwa Greta, der bei dem Übergriff Zähne ausgeschlagen wurden. Oder Ona (gespielt von Rooney Mara), die nach der Vergewaltigung jetzt ein Kind erwartet.
Nur ein einziger Mann darf in die Runde der Frauen: der Lehrer August. Denn er soll die Gespräche der Frauen protokollieren und für die Nachwelt festhalten, wie die Gruppe letztlich zu ihrer Entscheidung gekommen ist. Und viel Zeit bleibt den Frauen nicht. Denn die Männer drohen zurückzukehren – und spätestens dann muss die Entscheidung fixiert sein.
Zwei Oscar-Nominierungen für „Die Aussprache“
„Die Aussprache“ ist ein Film, der eben das zeigt, was normalerweise in Hollywood versteckt wird: der emotionale Schmerz nach dem Missbrauch und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und Geist, nachdem einem etwas so schreckliches widerfahren ist. Die Frauen sind traumatisiert. Nicht nur, wegen dem, was ihnen körperlich angetan wurde, sondern auch geistig. Sie wurden unterdrückt, manipuliert und wieder und wieder klein gehalten. Sie haben nicht nur äußere Wunden, sondern sind von der jahrelangen Unterdrückung nachhaltig gezeichnet, leiden unter Panikattacken und anhaltenden Ängsten.
„Die Aussprache“ lebt dabei von dem großartigen Cast. Claire Foy, Rooney Mara und Jessie Buckley liefern herzzerreißende Monologe und Dialoge und sorgen für Momente, in denen einem der Atem stockt. Frances McDormand schafft es währenddessen, mit einem einzigen Blick alle Emotionen und all den Schmerz zu übermitteln, den die Frauen spüren und Ben Whishaw überzeugt als der einzige Mann, der auch nur einen Hauch Mitgefühl empfindet. Es sind eben diese Texte und Emotionen, die „Die Aussprache“ zum Oscar-Anwärter machen. Denn der Film darf derzeit auf zwei Trophäen hoffen: zum einen für den Besten Film, zum anderen für das beste adaptierte Drehbuch.
Das Buch, auf dem der Film basiert, beruht übrigens auf einer wahren Begebenheit. Denn in den frühen 2000er-Jahren wurde bekannt, dass in einer Mennonitischen Gemeinschaft in Bolivien die Männer mehr als 60 Frauen der Gemeinschaft betäubten und vergewaltigten.
Ein „Akt weiblicher Fantasie“
Doch das, was wir auf der Leinwand sehen, ist ein „Akt weiblicher Fantasie“, erinnert uns der Film gleich zu Beginn. Denn auch, wenn die Situation der Unterdrückung und Misshandlung für viele Frauen alltägliche Realität ist, ein Ausbruch bleibt zu vielen von ihnen verwehrt. Und auch deshalb ist „Die Aussprache“ ein Film, den es gerade in unserem aktuellen gesellschaftspolitischen Geschehen rund um #MeToo, Abtreibungsverboten in Amerika und der gezielten Unterdrückung von Frauen an vielen Orten der Welt unbedingt braucht.
„Die Aussprache“ zeigt letztlich vor allem eines auf eine beeindruckende und berührende Art und Weise: es gibt diese eine richtige oder falsche Antwort nicht. Missbrauch hat viele Gesichter und noch mehr Reaktionen darauf. Deshalb gilt hier vor allem eines: wir müssen lernen, Frauen zuzuhören! Denn nur, indem sie ihre Geschichte erzählen können, können sie auch ein Stück Macht zurückgewinnen.