Die Abschiebung von Kindern in Österreich: Wir haben nachgefragt, wie es dazu kommen kann
28. Jänner 2021, drei Uhr nachts. Tina und Lea werden gemeinsam mit ihrer Mutter nach Georgien abgeschoben. Auch die Jugendlichen Sona und Ashot müssen das Land mit ihrer Familie Richtung Armenien verlassen. Und das, obwohl sie zum Teil hier geboren und aufgewachsen sind. Wie kann es zu so etwas kommen? Und was muss sich ändern, damit so etwas nicht mehr passiert? Wir haben nachgefragt.
In den frühen Morgenstunden des 28. Jänners finden sich rund 160 Personen vor dem Schubhaftzentrum in der Zinnergasse in Wien-Simmering ein. Schüler, Journalisten und Abgeordnete der Grünen, NEOS und SPÖ sind darunter. Sie protestieren gegen bevorstehende Abschiebungen. Vergeblich! Eine Horde an Polizisten bringt die Familien zu ihren Abschiebeflügen Richtung Georgien beziehungsweise Armenien. Betroffen sind die 12-jährige Tina, ihre fünfjährige Schwester Lea sowie die 20-jährige Schülerin Sona, ihr minderjährigen Bruder und ihre Eltern.
Besonders die Abschiebung von Tina und ihrer Familie hat bereits im Vorfeld für Aufregung gesorgt. Tina, die in Österreich geboren und großteils auch hier aufgewachsen ist, bekam Unterstützung von ihren Mitschülerinnen. Sie starteten eine Online-Petition, um die Abschiebung der Familie zu verhindern – ohne Erfolg.
Abschiebung: Schwachstellen im Asylsystem
Die Empörung ist groß. Auf Social Media, wie auch in der Politik, solidarisieren sich Menschen mit den abgeschobenen Kindern. Sogar Bundespräsident Alexander Van der Bellen meldete sich zu Wort. „Ich kann und will nicht glauben, dass wir in einem Land leben, wo dies in dieser Form wirklich notwendig ist“, lautet seine Kritik an der nächtlichen Abschiebung.
Das Innenministerium von Karl Nehammer argumentiert damit, dass der Fall rechtlich eindeutig sei und bezieht sich auf höchstgerichtliche Bescheide. Die Familie habe sich seit vier Jahren unrechtmäßig im Land befunden und bereits 2012 einen negativen Asylbescheid erhalten. Um zu verstehen, wie es überhaupt erst dazu kommt, dass eine Schülerin, die hier geboren wurde, mitten im Schuljahr ihre Koffer packen muss und sich kurze Zeit darauf in einem anderen Land wiederfindet, müssen wir uns zunächst einmal das Asylverfahren in Österreich ansehen. Mehrere Gesetze – das Asylgesetz, Fremdenpolizeigesetz, BFA-Verfahrensgesetz, Verwaltungsgerichtsgesetz sind in so einem Verfahren relevant. Nicht zuletzt eine Vielzahl an Novellierungen in den letzten Jahren hat dazu geführt, dass das Asylverfahren in Österreich ziemlich verzweigt und kompliziert ist.
Zusammengefasst sieht das Ganze so aus: Eine Person kommt nach Österreich, stellt bei der Polizei einen Asylantrag und wird dann zunächst erstbefragt. In der Regel werden dabei übrigens auch die Fingerabdrücke abgenommen und auf frühere Asylantragstellungen innerhalb der Europäischen Union sowie Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz überprüft. Wurde bereits ein Verfahren in einem dieser Staaten eröffnet, wird die Person dorthin zurück überstellt. Sieht sich Österreich zuständig, kommt es hierzulande zu einem Asylverfahren. In erster Instanz ist dafür das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zuständig. Es überprüft, ob die angegebenen Gründe für die Flucht nachvollziehbar sind und ob der betroffenen Person in ihrem Herkunftsland Tod, Folter oder unmenschliche Behandlung drohen.
Lehnt die Behörde den Antrag ab, kann der Antragsteller noch beim Bundesverwaltungsgericht Einspruch erheben. Das Gericht prüft den Fall dann erneut und lädt den Betroffenen zur Befragung vor. Kommt es auch hier zu einem negativen Ergebnis, gibt es noch die Möglichkeit, den Fall vor die Höchstgerichte zu bringen. Ist die Ablehnung des Asylantrags aber schlussendlich rechtskräftig, müssen die betroffenen Personen das Land verlassen, sofern sie keine andere Aufenthaltsgenehmigung haben.
Nachgefragt: Wie kam es zur Abschiebung von Tinas Familie?
Wie aber kam es zur Abschiebung von Tinas Familie? Ist die Lage rechtlich tatsächlich so eindeutig? Wir haben bei Ralph Janik nachgefragt. Er ist externer Lehrbeauftragter an der Uni Wien und unterrichtet dort Völkerrecht.
Wieso wurde Tinas Familie abgeschoben?
„Weil die Asylanträge abgelehnt wurden und es laut Innenministerium und den Gerichten auch keine sonstigen Gründe für einen Aufenthaltstitel gegeben hat. Weil die Familie nicht freiwillig ausgereist ist, kam es zur Abschiebung.“
Hätten die Eltern von Tina noch irgendetwas machen können, um in Österreich zu bleiben?
„Die Familie hat, soweit ich das sehe, alles versucht. Ein Antrag auf Bleiberecht wegen des Rechts auf Privat- und Familienleben war sogar noch offen, wobei das Innenministerium die vorgesehene Frist von sechs Monaten überschritten hat.“
Hätte die Politik noch eingreifen können? Hätten beispielsweise die Grünen noch etwas unternehmen könnten, um die Abschiebung zu stoppen?
„Die Grünen hätten nur politischen Druck ausüben können, rechtlich fiel die Sache ins Ressort des Innenministers und damit der ÖVP.“
Waren Innenminister Nehammer rechtlich tatsächlich „die Hände gebunden“?
„Die Hände gebunden waren ihm nicht, er hätte jedenfalls noch die Entscheidung über den offenen Antrag abwarten oder gar ein Bleiberecht aufgrund des langen Schulbesuchs aussprechen können. Er wollte eben nicht. Wenn ich das Innenministerium richtig verstanden habe, sorgt es sich davor, dass es dann in sehr vielen anderen Fällen ebenfalls ein Bleiberecht aussprechen müsste. Man will also selbst in Fällen wie diesem keinerlei Ausnahmen vom harten Kurs machen.“
Wieso fand die Abschiebung mitten in der Nacht statt? Ist es üblich, so viel Polizeipräsenz bei einer Abschiebung zu haben?
„Das müssen Sie das Innenministerium fragen. In der Nacht ist es jedenfalls insofern ‚leichter‘, weil es weniger Demonstranten gibt, die eine Abschiebung verhindern wollen. Die Polizeipräsenz dient der Durchsetzung. Wobei man sagen muss: Je mehr Polizisten, desto weniger Gewalt müssen sie anwenden.“
Im Fall von Tina wurde ein Kind, das hier geboren und aufgewachsen wurde und somit seinen Lebensmittelpunkt in Österreich hatte, in ein ihr fremdes Land abgeschoben. Wieso wurde diese Tatsache nicht im Asylverfahren berücksichtigt?
„Es wurde teilweise berücksichtigt, das BFA (Anm.: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) und die Gerichte haben aber betont, dass sie einen Großteil ihrer Lebenszeit in Österreich ohne Aufenthaltstitel verbracht hat. Das wurde mit den Auswirkungen auf Tina gewissermaßen ‚aufgewogen‘. Leider wurde dabei aber die Kinderrechtskonvention bzw. das Gesetz über die Rechte von Kindern, das bei uns in Verfassungsrang steht, nicht berücksichtigt. Allerdings ist auch dort davon die Rede, dass die Familie zusammenbleiben soll. Wie das Bundesverwaltungsgericht betont hat, ist das möglich – nur eben in Georgien.“
Der Vater von Tina wurde nicht abgeschoben. Er darf laut Berichten mit einem slowakischen Aufenthaltstitel und Visum in Österreich sein. Wieso wird das bei seinen Kindern nicht berücksichtigt?
„Soweit mir bekannt, hat er nur ein Touristenvisum für drei Monate. Wenn er einen Daueraufenthalt hätte, könnte die Sache anders aussehen.“
Wieso gibt es in so einem Fall nicht etwas Ähnliches wie eine „Verjährung“ von negativen Asylbescheiden?
„Das gibt es insofern als dass es auch bei negativem Asylbescheid ein Bleiberecht geben kann. Zum Beispiel, wenn jemand danach trotz negativen Asylbescheids weiterhin sehr lange hier ist und sich weiter integriert (Arbeitsplatz, Ausbildung, Sprachkenntnisse, Betätigung in einem Verein). Oder bei einer Heirat oder Elternschaft mit jemandem aus Österreich. Aber das ist alles noch keine Garantie.“
Wieso haben Kinder wie Tina kein Bleiberecht in Österreich?
„Unter anderem, weil Tina nicht alleine hierbleiben würde, sondern ihre gesamte Familie ebenfalls ein Aufenthaltsrecht bekommen müsste. Wie gesagt, das Verfassungsgesetz über Kinderrechte sieht vor, dass Familien zusammen bleiben. Und der Staat möchte nicht, dass Eltern über ihre Kinder ein Bleiberecht in Österreich ‚erzwingen‘ können.“
Wieso haben Kinder, die hier geboren sind, nicht automatisch die österreichische Staatsbürgerschaft?
„Wir haben in Österreich, wie in den meisten Ländern der Welt, das sogenannte ‚Recht des Blutes‘ – (ius sanguinis) das heißt, man bekommt die Staatsbürgerschaft über einen Elternteil. In Ländern wie den USA gibt es zusätzlich das ‚Recht des Bodens‘ (ius soli), demzufolge man Staatsbürger wird, wenn man dort geboren ist. Was dazu führt, dass schwangere Frauen gezielt in die USA reisen, damit ihre Kinder die dortige Staatsbürgerschaft haben. Das will man hier nicht. Unser Staatsbürgerschaftsrecht ist allgemein sehr streng. Das Thema ist aber auch in den USA äußerst umstritten.“
Was hätte anders sein müssen, damit Tina ein Bleiberecht zugesprochen wird?
„Schwer zu sagen. Nur so viel: Je länger sie hier gewesen wäre und die Schule besucht hätte, desto schwerer ließe sich eine Abschiebung argumentieren.“
Gibt es jetzt noch Hoffnung für die Familie von Tina, jemals wieder nach Österreich zurückkehren zu können?
„Das Bundesverwaltungsgericht hat ausdrücklich auf legale Einreisemöglichkeiten wie die Rot-Weiß-Rot-Karte verwiesen. Dieses System der Einwanderung von Fach- oder Schlüsselarbeitskräften funktioniert allerdings auch nicht so wirklich.“
Wie muss das Gesetz in Österreich geändert werden, damit so etwas nicht mehr passiert?
„Eine Idee wäre, der Mutter ein befristetes Aufenthaltsrecht bis zur Volljährigkeit von Tina zu geben. Aber dann hätte sich bei der zweiten Tochter dieselbe Frage erneut gestellt. Man kann auch konkrete Fristen setzen, ab denen hier geborene und lange im Land befindliche Kinder nicht abgeschoben werden dürfen. Andere würden dann aber einwenden, dass man dadurch Anreize schafft, unterzutauchen bzw. auch ohne Aufenthaltstitel auf keinen Fall freiwillig auszureisen. Wie man sieht, ist die Sache verfahren.“
Ist so eine Änderung realistisch?
„Nein. Ich sehe in Österreich derzeit nicht den politischen Willen, hier einen Konsens zu finden. Aber vielleicht bin ich auch überpessimistisch.“