Coronavirus: Was macht Großbritannien anders?
Großbritannien hat auf den Coronavirus ganz anders reagiert als der Rest Europas. Das könnte dramatische Folgen haben – auch für andere Länder.
Italien ist zur Sperrzone geworden, auch in Österreich gibt es strenge Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen, der Flugverkehr wird lahmgelegt – das Leben, wie wir es gewohnt sind, ist auf „Notbetrieb“ gestellt, wie es der österreichische Kanzler Sebastian Kurz drastisch formuliert hat. Und dann sehen wir Bilder aus Großbritannien, wo Sportbewerbe durchgeführt werden, Restaurants geöffnet haben, Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind, als wäre gar nichts passiert. Wie gibt es das? Was treibt Großbritannien da?
Der Hintergrund ist nicht etwa der Brexit, also der Austritt aus der EU, sondern eine gänzlich andere Herangehensweise: Die britische Regierung fährt eine andere Strategie als andere Länder, beruhend auf entsprechenden Empfehlungen ihrer wissenschaftlicher Berater. Demnach soll eine sogenannte Herdenimmunität aufgebaut werden. Das bedeutet, dass ein Großteil der Bevölkerung nach einer Infektion immun sein soll und dadurch die Folgen des Coronavirus weniger schlimm sein sollen. Das soll so funktionieren: Wenn sich immer mehr Menschen nach und nach mit Covid-19 anstecken, werden auch immer mehr dagegen immun. Dann könnten auch nachfolgende Viruswellen Großbritannien nicht viel anhaben.
Andere Länder haben einen anderen Weg gewählt, um die Spitäler vor einer riesigen Welle an lebensgefährlich erkrankten Personen zu schützen. Doch Sir Patrick Vallance, der medizinische Berater von Kanzler Boris Johnson, hält diese Vorgehensweise nicht für sinnvoll. Sein Argument: Wenn man jetzt die Verbreitung radikal unterdrückt, könnte die nächste Welle erst recht für Tausende Tote sorgen. Und außerdem würden die Menschen lange Quarantäne-Maßnahmen und Ausgangssperren irgendwann einfach ignorieren. Also: Erst mal hoffen, dass möglichst wenig Personen ernsthaft erkranken und die Bevölkerung weitgehend immunisieren.
Diese Strategie ist nach Ansicht von Experten sehr gefährlich – aus mehreren Gründen. Erstens werden dadurch hunderttausende Menschen einer Gefahr ausgesetzt, die man eventuell eindämmen hätte können. Vor allem ältere Personen sind gefährdet. Zweitens könnte eine rasante Ausbreitung die völlige Überlastung des Gesundheitssystems auslösen; genau das ist ja in Italien passiert. Und das englische System (NHS = National Health Service) ist kaum besser als jenes in Italien; es muss ständig gespart werden und Jobs werden nicht nachbesetzt. So soll es in ganz Großbritannien nur 4000 Intensivbetten geben. Zum Vergleich: Sogar im kleinen Österreich gibt es knapp 2500 solcher Betten für Intensivpatienten. Drittens gibt es überhaupt keine Beweise, dass Menschen in Zukunft gegen das Virus immun sein könnten, wenn sie es mal in sich getragen haben. Außerdem könnte das Virus immer wieder mutieren und dann erst recht für eine neue Welle sorgen, gegen die sich niemand schützen kann.
Die Trotzreaktion der Briten gegenüber den europäischen Maßnahmen ist aber vor allem auf Boris Johnson zurückzuführen: Der britische Premierminister hatte alle Warnungen von Wissenschaftlern ignoriert, die das Vorgehen in Großbritannien als Wahnsinn einstuften – zumindest bisher. Denn nun dürfte auch Johnson erkannt haben, dass man mit der Herdenimmunität-Strategie möglicherweise viele Menschen gefährdet. Großbritannien überlegt nun ein Verbot von Großveranstaltungen, will Menschen über 70 ein Ausgehverbot erteilen und weitere Maßnahmen umsetzen. Besonders bizarr: Englische Autohersteller sollen dazu verpflichtet werden, statt Autoteilen in Zukunft Beatmungsgeräte herzustellen.