Corona-Krise: Sind wir solidarisch oder überwachen wir uns gegenseitig?
Einen Fuß vor den anderen setzen. Schritt für Schritt ein bisschen die Beine vertreten. Links und Rechts komme ich an geschlossenen Lokalen vorbei. „Wegen Coronavirus…“ steht auf den Schildern in den Türen, doch bevor ich zu Ende lesen kann, muss ich ausweichen, denn es kommt mir jemand entgegen.
So sieht momentan mein täglicher Spaziergang aus. Sich die Beine zu vertreten ist eine der wenigen Freiheiten, die uns während der Corona-Krise noch geblieben sind. Und dennoch fühle ich mich beobachtet.
Big Brother unter Nachbarn
Denn seit den von der Regierung verordneten Ausgangsbeschränkungen, scheint es so, als könne man im öffentlichen Raum nichts mehr richtig machen. Hat man beim Spaziergehen eine Maske auf, wird man von den einen schief angeschaut – immerhin gilt die Maskenpflicht bisher nur in Öffis und Supermärkten. Hat man sie nicht auf, wird man von den anderen beschimpft – immerhin soll sie andere vor einer Ansteckung schützen.
In diesen Zeiten schauen viele unserer Mitbürger ganz genau hin. Das merke ich auch, wenn ich meine Social-Media-Feeds durchscrolle. Neben der großen Solidarität mit der Risikogruppe und all jenen Personen, die in systemrelevanten Berufen an vorderster Front gegen das Coronavirus kämpfen, schleicht sich auch ein weiteres Phänomen ein: die öffentliche Anprangerung all jener, die sich aus subjektiver Sicht noch nicht an die „neue Normalität“ angepasst haben.
„Müssen die jetzt wirklich alle spazieren gehen?“
Besonders Spaziergänger scheinen in meiner Bubble auf großen Unmut zu stoßen. Zeilen wie „Müssen die jetzt wirklich alle spazieren gehen?“ oder „Wieso müssen die alle dringend raus?“ lese ich in wütenden Facebook-Postings von Bekannten, die sonst eher davor zurückscheuen, ihre Meinung öffentlich kund zu machen. So wird sich über Massen auf den Straßen echauffiert, von den Ausgangsbeschränkungen würde man kaum etwas mitbekommen. Die Spaziergänger würden noch dazu miteinander reden – grauenhaft und unverständlich. Besonders gerne regt man sich über ältere Menschen auf, die jetzt „plötzlich nach draußen müssen“. Immerhin sperre man sich extra für die Risikogruppe zu Hause ein, während sie es wagt, munter und fröhlich an die frische Luft zu gehen.
Dabei waren Spaziergänge von Anfang an ausdrücklich erlaubt. Auch die Tatsache, dass viele der User, die sich über die Massen auf den Straßen aufregen, das Geschehen selbst von draußen beobachten, scheint in ihrer Wut untergegangen zu sein. Neben dem Applaus für Ärzte und Pflegepersonal pünktlich um 18 Uhr, den lauten Solidaritätsbekundungen und Challenges, um die Risikogruppe zu unterstützen, fehlt mir während der Krise etwas ganz wesentliches: Empathie.
Empathie statt Solidarity
Und mit Empathie meine ich keine Hashtags wie #staythefuckhome, keine Profilbildänderungen mit Corona-Rahmen und auch keine Belehrungen von Studierenden, die sich am Anfang der Krise falsch verhalten haben. So sehr ich auch die Solidarität in den sozialen Netzwerken als etwas Positives betrachte, fehlt mir dennoch etwas. Ich meine vielmehr die tatsächliche Fähigkeit, sich in die Motive und Gefühle anderer Menschen hineinversetzen zu können. Denn um auf die Frage meiner Facebook-Freunde zu antworten: „Müssen die jetzt wirklich spazieren gehen?“: Ja, vielleicht müssen sie das und wir sind nicht hier, um sie dafür zu verurteilen.
Denn was viele gerade in den ersten Wochen der Ausgangsbeschränkungen außer Acht gelassen haben, ist, dass es auch noch andere Erkrankungen oder Schicksalsschläge gibt, die nichts mit dem Coronavirus zu tun haben. So gibt es etwa ältere Menschen, die nicht den ganzen Tag in einem geschlossenen Raum bleiben können oder Personen mit psychischen Erkrankungen, denen der Alltag gerade in Krisen-Zeiten besonders schwerfällt. Ich finde es wichtig, gerade in so schwierigen Situationen wie jetzt zu versuchen, sich in die Emotionen anderer Menschen hineinzufühlen, bevor man sie an den Pranger stellt. Immerhin befinden wir uns in einer Ausnahmesituation. Keiner weiß, wie man am besten damit umgeht.
Selbstjustiz im Namen der Gesundheit
Eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur unter Polizeipräsidien zeigt, dass Ermittler während der Corona-Krise zahlreiche Hinweise aus der Bevölkerung auf mögliche Verstöße gegen die neuen Verordnungen erhalten. Allerdings seien die Hinweise nicht immer berechtigt. Unsere Mitbürger schauen also oft nicht nur genauer hin. Sie zücken auch gerne das Telefon, um die Behörden zu verständigen. Mir wurde bereits erzählt, dass Bekannte etwa im Wald angeschrien wurden, weil sie keine Schutzmaske aufhatten. Ein anderer wurde von einem Passanten auf der Straße mit einem Nordic Walking-Stecken angegriffen, weil er nicht genug Abstand gehalten hat.
Wahrscheinlich sind das extreme Einzelfälle, aber dennoch beunruhigt mich, wie hier viele Bürger im Namen der Gesundheit Selbstjustiz vollziehen. Großteils werden die neuen Gesetze und Verordnungen nicht nur unreflektiert hingenommen, sondern teilweise scheint es auch so als wäre alles verboten, das die Regierung nicht ausdrücklich erlaubt hat. Die Krise hat mir gezeigt, dass Menschen in Notsituationen zwar besonders solidarisch sein können, auf der anderen Seite aber vergessen, politische Entscheidungen kritisch zu hinterfragen. Selbst die Medien schienen anfänglich in eine Art Schockstarre gefallen zu sein. Sie haben zumindest in den ersten Wochen ausschließlich die Entscheidungen der Regierung unreflektiert weiterverbreitet. Für Kritik und Analysen blieb keine Zeit. Zum einen ist diese Reaktion verständlich, zumal es eine derartige Pandemie noch nie gegeben hat, zum anderen werde ich jetzt wohl bei der nächsten Diskussion in der Pub-Runde nie wieder sagen können, dass eine Diktatur in unserem Land heutzutage unmöglich wäre.
Sind wir doch nicht so gehorsam?
Um also den Mindestabstand einzuhalten, weiche ich bei meinem Spaziergang der entgegenkommenden Person aus. Dafür muss ich den Gehsteig verlassen und auf die Straße wechseln. Dabei beobachte ich, wie die Person ihren Hund auf einer Grünfläche sein Geschäft verrichten lässt. Daneben steht ein Schild, das auf die 36 Euro Strafe hinweist, falls man den Haufen seines Vierbeiners nicht wegräumt. Die Person geht weiter, der Haufen bleibt liegen und ich muss lachen. Vielleicht sind wir doch nicht so gehorsam, wie ich denke. Dabei laufe ich aber beinahe einem Mann mittleren Alters in die Arme. „Oida! Mindestabstand heast“, bellt er mich an.