Afghanistan: Wie konnte es so weit kommen?
Die Bilder und Nachrichten aus Afghanistan sind für viele bedrückend und machen hilflos. Nachdem die Taliban die Kontrolle über das Land gewonnen haben, fragen sich viele: Wie konnte das überhaupt passieren? Hier ein komprimierter Überblick.
Wer zurückblickt, merkt: Die Situation spitzt sich schon seit Jahren zu.
Jahrzehntelanger Konflikt
Es sind schreckliche Bilder, die in den vergangenen Tagen um die Welt gingen. Menschen, die verzweifelt versuchen, in ein Flugzeug einzusteigen, um Afghanistan verlassen zu können. Schaufenster-Fotos von Frauen, die übermalt werden. Familien, die verzweifelt versuchen, vor den Taliban zu flüchten. Die Situation scheint innerhalb weniger Tage vollkommen außer Kontrolle geraten zu sein.
Scheinbar im Stundentakt gibt es Neues aus Afghanistan. Live-Ticker und internationale News berichten von der immer schlimmer werdenden Situation. Von US-Präsident Joe Biden, der die amerikanischen Truppen aus Afghanistan abziehen lässt. Von dem schnellen Vorstoß der Taliban, die ohne viel Widerstand die Städte des Landes erobern. Von dem Präsidenten Ashraf Ghani, der aus der Hauptstadt flüchtet und den Taliban damit die Kontrolle über das gesamte Land überlässt. Von europäischen Ländern, die ihre Auslands-Mitarbeiter schnellstmöglich aus Afghanistan evakuieren und von den Einheimischen, die verzweifelt zurückbleiben.
Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen? Um die jetzige Situation wirklich verstehen zu können, reicht es nicht aus, ein paar Tage oder Wochen zurückzublicken.
Denn die Taliban wurden bereits in den frühen 1990er Jahren gegründet, nachdem Afghanistan von der Sowjetunion regiert wurde und ein Bürgerkrieg im Land geherrscht hatte. Kurz nachdem die Sowjetunion sich 1989 aus Afghanistan zurückgezogen hatte, übernahmen die Taliban die Macht und schufen von 1996 bis 2001 ein islamisches Emirat in Afghanistan.
Die Taliban operierten nach den Gesetzen der Scharia. Unter ihrer Herrschaft wurden unter anderem Tanz- und Sportveranstaltungen verboten. Frauen waren in dieser Phase gezwungen, eine Burka zu tragen und durften keine schulische Ausbildung erhalten. Auch öffentliche Hinrichtungen von verurteilten Mördern und Ehebrechern sowie Amputationen für verurteilte Diebe waren in diesem Zeitraum Teil des Alltags.
Afghanistan: Zusammenhang mit dem 11. September
Als die Terrororganisation Al Qaeda am 11. September 2001 einen Anschlag auf das New Yorker World Trade Center durchführte, folgte die Reaktion des damaligen US-Präsidenten George W. Bush innerhalb kurzer Zeit.
Um das Terrornetzwerk zu bekämpfen und die Verantwortlichen hinter dem Anschlag zur Rechenschaft zu ziehen, ließ Bush Angriffe gegen Al Qaeda als auch den Taliban zu. Diese sollten es unmöglich machen, dass Terroristen Afghanistan für die Organisation weiterer Anschläge als Planungsort verwenden. Grund für die Angriffe waren auch, dass die Taliban Al Qaeda und insbesondere deren Anführer Osama Bin Laden nicht an Amerika ausliefern wollten.
Die amerikanischen Truppen stürzten schließlich die Taliban und versuchten mit der Unterstützung der NATO, Afghanistans Regierung – angepasst an westliche demokratische Länder – umzuformen. Ab 2004 wurde diese neue Regierung eingesetzt, mit ersten Erfolgen. Frauen hatten wieder deutlich mehr Rechte, durften Schulen und Universitäten besuchen und Berufe ausüben. Auch für die Infrastruktur des Landes gab es mit neuen Schulen und Krankenhäusern anfänglich große Erfolge.
Jahrzehntelange Korruption
Von den Milliarden, die Amerika und andere NATO-Staaten für Afghanistan bereitstellten, kamen jedoch nur Bruchteile wirklich der Bevölkerung zugute. Korruption in der neuen afghanischen Regierung sorgte dafür, dass hunderte Millionen Dollar gestohlen oder anderweitig verwendet wurden. Auch die sich wieder formenden Taliban stellten ein großes militärisches Problem dar. Es folgte ein jahrelanger militärischer Konflikt.
Mit der Ermordung von Osama Bin Laden im Jahr 2011 gab es jedoch erste Hinweise darauf, dass sich die USA aus dem Land zurückziehen würde. Der damalige US-Präsident Barack Obama gab einen Monat nach der Ermordung Bin Ladens bekannt, dass sich die Truppen bis Ende 2014 großteils zurückziehen würden.
Der Fokus sollte dann auf dem Training der afghanischen Truppen liegen. Das Ziel: Die Armee mit Waffen und Wissen ausstatten, damit sie sich in Zukunft selbst verteidigen könnten. Doch während die NATO ihre Soldaten aus Afghanistan holte und die USA nach dem Motto „Train-advise-assist“ trainierten, stärkten sich die Taliban weiterhin und organisierten 2015 eine Reihe von Selbstmordattentaten, Autobombenanschlägen und Angriffen.
Im Februar 2020 kam es zwischen den Taliban und der USA zu einer vermeintlichen Einigung. In dieser versprachen die USA und NATO-Staaten, alle Truppen aus Afghanistan abzuziehen, solange die Taliban versicherten, dass Afghanistan zu keiner Bedrohung für die USA und andere Staaten werde und sich das Land nicht zu einem Zufluchtsort für terroristische Gruppierungen entwickeln würde. Auch ein Fahrplan für eine neue Regierung inklusive einer neuen Verfassung sowie ein dauerhafter Waffenstillstand waren Teil der Abmachung.
Für Amerika ist die Zeit in Afghanistan der am längsten währende Krieg des Landes mit mehreren zehntausend Toten. Pro Tag kostete der Krieg den Amerikanern rund 300 Millionen US-Dollar.
Warum konnten die Taliban Afghanistan so schnell erobern?
Doch nachdem US-Präsident Joe Biden vor wenigen Tagen den vollständigen Rückzug der US-Truppen bis zum 11. September – 20 Jahre nach den Anschlägen – verkündete, eskalierte die Situation in Afghanistan rasant.
Denn die Taliban eroberten kontinuierlich neue Gebiete, angefangen am Land bis hin zu den großen Städten des Landes. „In einigen Städten waren wochenlang schwere Kämpfe in den Außenbezirken im Gange, aber die Taliban überwanden schließlich ihre Verteidigungslinien und marschierten dann mit wenig oder gar keinem Widerstand ein“, heißt es in einer Analyse der New York Times.
Das afghanische Militär hätte viele Schwachstellen, unter anderem was Ausbildung, Ausstattung, Logistik und Moral angeht. Auch die Korruption soll bei den Streitkräften immer noch sehr groß sein. „Und als die Taliban nach der Abzugsankündigung der Vereinigten Staaten an Stärke gewannen, verstärkte sich der Glaube, dass der Kampf in den Sicherheitskräften – der Kampf für die Regierung von Präsident Ashraf Ghani – es nicht wert sei, dafür zu sterben. In einem Interview nach dem anderen schilderten Soldaten und Polizisten Momente der Verzweiflung und das Gefühl der Verlassenheit“, analysiert die New York Times.
Seit die Taliban schließlich auch die Hauptstadt Kabul eroberten, scheint die Situation endgültig. „Der Krieg in Afghanistan ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim dem Fernsehsender Al Jazeera. „Die Art der Herrschaft und die Regierungsform werden bald klar sein.“
Große Sorge um Frauenrechte
Eine Situation, die vielen Menschen in Afghanistan und international große Sorgen macht. Auch internationale Hilfsorganisationen und Experten äußern ihre Sorge – insbesondere mit Hinblick auf die Situation für Frauen und Kinder. Denn die Sorge, dass alle Errungenschaften der vergangenen Jahre – wie etwa die Schulbildung, der Einstieg ins Berufsleben und das Wegfallen der Burka – unter der Herrschaft der Taliban wieder vergessen werden, sind groß.
Viele Menschen fragen sich jetzt, was den Frauen in Afghanistan droht und wie man wirklich aktiv helfen kann. Dieser Frage sind wir nachgegangen und haben dafür mit der Geschäftsführerin des Afghanischen Frauenvereins gesprochen. Hier gehts zum Artikel!