Tabuthema Fehlgeburten: Warum niemand darüber spricht
Wenn wir glauben, dass Fehl- und Totgeburten nicht existieren, machen wir uns etwas vor. Kinder sterben im Bauch der Mütter und über den Verlust muss gesprochen werden. Über Fehlgeburten zu reden, schafft Verständnis und Toleranz und genau daran mangelt es derzeit in unserer Gesellschaft.
Frauen müssen über die Häufigkeit von Fehlgeburten besser aufgeklärt werden. Sie müssen wissen, dass sie nicht allein sind, sie müssen wissen, dass sie keine Schuld trifft, sie müssen wissen, dass die Chance auf ein gesundes Kind weiterhin besteht. Sie müssen wissen, dass sie über ihren Schmerz reden dürfen und nicht dafür verurteilt werden.
Wir haben mit vier Frauen über ihre Fehlgeburten gesprochen.
Fehl- und Totgeburten sind keine Seltenheit
Barbara hat sich über alles Gedanken gemacht und hat ihre kleine Tochter voller Freude erwartet. Nur an eines hatte sie nie gedacht – eine Totgeburt. Erst als der Arzt ihr in der 20. Woche mitteilte, dass er keinen Herzschlag mehr hört, wurde sie schlagartig damit konfrontiert: „Ich habe am Anfang gar nicht realisiert, was eigentlich gerade passiert war. Mein Freund hat es früher verstanden als ich. Er stand neben mir und hat meine Hand irgendwann immer fest gedrückt.“, erzählt sie uns im Interview. Auch Vanessa hat ihre Kinder in der 20. Woche verloren – Sara und Rosa – Zwillinge. In ihrem Heimatdorf sprach damals niemand über derartige Erlebnisse, erst als sie über ihren Verlust geredet hat, hörte sie überraschende Geständnisse von anderen: „Es sind danach so viele Menschen auf mich zugekommen und haben mir ihre Geschichten erzählt.“
Vanessa und Barbara sind nur zwei von vielen Müttern und trotzdem hat eine Fehl- bzw. Totgeburt etwas von einem gesellschaftlichen Tabu, etwas worüber nicht einfach so gesprochen wird. Zu groß ist der Scham, verurteilt zu werden. Das Schweigen beginnt schon mit dem positiven Schwangerschaftstest. Zu ungewiss ist es, ob das Kind das erste Trimester überleben wird. Diese Erfahrung musste auch Mariella machen, die ihr zweites Kind in der 10. Woche verloren hat: „Es war ganz, ganz schlimm. Wir haben so lange auf das Kind gewartet und endlich ist es da und dann verliere ich es. Es war furchtbar, ich war mit meinen Kräften am Ende und habe zwei Wochen lang nur geweint.“
Wie alltäglich der Verlust eines Kindes aber ist, bestätigt Frauenärztin Dr. Eva Lehner-Rothe: „Man muss davon ausgehen, dass in Summe in den ersten 12 Schwangerschaftswochen knapp 30 Prozent aller Schwangerschaften fehllaufen, es ist eine relativ hohe Zahl. Oft bleiben Fehlgeburten in den ersten Schwangerschaftswochen unbemerkt und werden als Unregelmäßigkeit im Menstruationszyklus fehlinterpretiert. Danach sinkt die Wahrscheinlichkeit. Aber auch wenn es unwahrscheinlicher ist, kann immer etwas passieren.“
Wie gehen Ärzte mit Fehlgeburten um?
Auch wenn Tot- und Fehlgeburten keine Seltenheit sind, ist es wichtig, wie Ärzte mit den Müttern umgehen und ihnen die Nachricht überbringen.
Teresia hat ihr Kind in der 17. Woche verloren und die Geburt musste medizinisch indiziert werden. Ihr Krankenhausaufenthalt war für sie aber der Horror: „Im Vorfeld hat man mir erklärt, das man sich um mich extrem kümmern wird, ich quasi einen kleinen VIP Status haben werde. Im Endeffekt war genau das Gegenteil der Fall. Ich saß eineinhalb Stunden im Zimmer, hatte schon Blutungen und keiner hat sich um mich gekümmert. Die Situation war einfach nur schrecklich. Erst als eine Hebamme zufällig an meinem Zimmer vorbeigekommen ist und gesehen hat, was los ist, hat sie wirklich alles stehen und liegen lassen und hat sich um mich gekümmert.“
Auch Mariella hat diesbezüglich keine guten Erfahrungen gemacht: „Ich hatte einen total unfreundlichen Arzt, der mit beiläufig mitteile, dass es keinen Herzschlag mehr gibt und ich froh sein sollte, dass das Kind so früh abgeht. Es ist wirklich ein großer Unterschied, wie der Arzt damit umgeht, ob er Mitgefühl zeigt oder nicht.“ Genau wie Mariella musste auch Vanessa die schmerzliche Erfahrung machen, dass es für Ärzte Alltag ist, der sie abstumpfen lässt: „Die Ärzte habe ich vergessen können, für die war ich ein Standardfall. Hätte ich die Krankenschwestern nicht gehabt, wüsste ich nicht, ob ich heute so hier sitzen würde.“, erzählt sie.
Die Frage nach der Schuld
Eine Fehl- bzw. Totgeburt kratzt am eigenen Selbstwertgefühl, viele erleben sie als Versagen des eigenen Körpers. Auch Mariella hatte damit zu kämpfen: „Ich selbst hatte das Gefühl, dass mein Körper versagt hat. Ich war wütend, dass ich nicht in der Lage war, dieses Kind am Leben zu erhalten. Und es ist bis heute ein bisschen mit Scham behaftet.“ Doch eine Fehl- oder Totgeburt sollte niemals aus Angst vor gesellschaftlicher Ablehnung oder Zurückweisung verschwiegen werden.
Auch die Schuld sollte nicht bei sich selbst oder irgendeinem Fehlverhalten während der Schwangerschaft gesucht werden: „Ich versuche den Frauen immer zu vermitteln, dass die Frage nach dem Warum ein großer Fehler ist. Es gibt auf diese Frage keine Antwort. Es ist der Lauf der Natur, sie regelt es von selbst. Bei den Tieren ist das genauso wie bei uns. Es sind schwere, mit dem Leben nicht vereinbare Störungen der Entwicklung oder Fehlbildungen. Die Schwangerschaft beendet sich von allein. Es sind unglückliche und traurige Verläufe, aber sie sind natürlich.“, so Dr. Lehner-Rothe.
Der Verlust muss verarbeitet werden
Jeder hat andere Wege, über den Verlust hinwegzukommen, aber so unterschiedlich die Erfahrungen der Mütter auch sind, so sehr hat es ihnen geholfen, über ihren Verlust zu reden und zu wissen, dass sie nicht alleine sind: „Auch wenn ich erstmal für mich sein wollte, hat es mir geholfen zu wissen, dass ich nicht alleine bin, dass anderen das Gleiche passiert ist. Es ist eine schlimme Erfahrung, die verarbeitet werden muss“, erzählt Mariella.
Wie wichtig es ist zu trauern, weiß auch Vanessa: „Man muss einen Weg für sich selbst zu finden und den Verlust nicht einfach in sich hineinzufressen, sondern ihn verarbeiten. Zeit zum Trauern ist dafür unerlässlich. Sara und Rosa sind meine Kinder und Leo wächst mit dem Wissen auf, dass er zwei ältere Schwestern hat.“ Teresia gibt allen Müttern, die das Gleiche erleben den Tipp, so oft und so viel darüber zu reden, wie man nur kann: „Auch wenn mir jetzt immer noch die Tränen kommen, war es so erleichtern mit allen darüber zu reden. Gute Freunde hören sich deine Geschichte auch 1000 Mal an. Es tut gut, sich den Schmerz von der Seele zu reden.“
Auch eine Psychologin kann einem in der schweren Zeit helfen, wie uns Barbara erzählt: „Ich habe zwar auch immer mit meinem Freund darüber geredet, aber es gibt einfach Dinge, die kannst du zwar sagen, aber eigentlich willst du es nicht sagen, weil du weißt, sie verletzen die andere Person genauso wie dich. Deswegen war für mich meine Psychologin eigentlich eine der wichtigsten Bezugsmenschen.“ Wer lieber mit anderen Müttern redet, denen das Gleiche passiert ist, findet große Unterstützung in Selbsthilfegruppen, wie dem Verein Regenbogen, Pusteblume oder Sternenkinder.
Die Angst bleibt
Inzwischen haben Vanessa, Barbara, Teresia und auch Mariella nach ihren Fehlgeburten gesunde Kinder zur Welt gebracht, doch der Weg dorthin war für alle nicht leicht: „Ich hatte während der Schwangerschaft mit Leo wirklich bei allem Angst. Ich hab mich eigentlich von einem Meilenstein zum anderen gehangelt und meine Psychologin hat mir in der Zeit sehr geholfen.“, berichtet Vanessa. Auch Mariella wurde in ihren Folgeschwangerschaften von Ängsten geplagt: „Ich hatte die ersten Wochen total Angst. Erst als das Herz geschlagen hat, war dann irgendwann die Angst weg. Ich wusste, dass das Kind lebt. Meine Psychologin hat mir sehr geholfen in dieser Zeit.“
Die Angst nach einer Fehl- oder Totgeburt keine gesunden Kinder mehr bekommen zu können ist verständlich, aber erstmal unbegründet, wie Dr. Lehner-Rothe versichert: „Wenn es einer Frau zweimal passiert, ist das traurig und schrecklich, aber es ist nicht ungewöhnlich und es wird noch keine Ursachenuntersuchung durchgeführt. Er bei der dritten Fehlgeburt wird geklärt, welche Ursachen es dafür gibt.“ Die Mütter sind das beste Beispiel, dass in der Folgeschwangerschaft alles gut gehen und man die Hoffnung auf keinen Fall aufgeben sollte.
Diese Worte möchte euch die Mütter mit auf den Weg geben
Barbara: „Ich denke, in so einer Situation ist Reden immer Gold wert und es ist essenziell, Gefühle zu zeigen. Das gilt auch für Männer. Sie dürfen genauso traurig, fassungslos und erschlagen von der Situation sein wie wir Frauen!“
Teresia: „Auch wenn mir immer noch die Tränen kommen, sie werden wahrscheinlich immer kommen, hat so gutgetan, darüber zu reden. Redet so oft darüber, wie ihr es müsst.“
Vanessa: „Man muss einen Weg für sich selbst finden, damit umzugehen. Es ist ein zu einschneidendes Erlebnis, dass du nicht einfach so zur Seite schieben kannst. Sonst holt es dich irgendwann ein.“
Mariella: „Man muss sich Zeit nehmen, um zu trauern. Es ist ok, wenn man sich zurückzieht und von der Welt abschottet und eine Zeit lang einfach nur weint.“