Voguing: So funktioniert dieser Tanzsstil
Strike a Pose!“ sang Madonna im Video zu ihrem 1990 veröffentlichten Song „Vogue“, der Voguing international zu Bekanntheit verhalf. Doch es ist mehr als nur ein Tanzstil – Voguing ist ein Gefühl, das Geschichte und Lebensfreude zum Ausdruck bringt. Unser Fashion Director Mio Paternoss hat einen Selbstversuch gewagt.
Work and work and hold – that – pose – for – me!“, ruft Gregor, der in der Szene unter dem Pseudonym Plenvm (sprich: Plen-uhm) auftritt, bevor die letzten Sekunden der temporeichen Housemusik anbrechen. Eine Phrase, die dem Performer signalisiert, den Akt zu Ende zu bringen und mit einer Voguingpose still stehen zu bleiben. Die Tänzer halten ihre grazile Stellung und atmen tief; wie Models bei einem Covershooting wird gesmizet (to smize: smiling with the eyes), was das Zeug hält. Der Ausdruck wird minimal angepasst und langsame Bewegungen werden vollzogen, bis der Beat erneut ertönt und die Gruppe weiter voguet. Ein wahnsinnig eindrucksvoller Anblick, der in mir sofort Achtung, aber gleichzeitig auch Ehrgeiz auslöst.
Beim Voguing ist absolute Körperspannung gefragt
Ich würde mich selbst als einen aufgeschlossenen Typ Mensch beschreiben, der schnell zu euphorisieren und für jeden Spaß zu haben ist. Demnach bin ich extremst excited, wie ich meine miss-Kolleginnen vorab mehrmals wissen ließ, dass nun endlich der Tag der Tage gekommen ist. In einem Tanzstudio im 20. Wiener Gemeindebezirk treffen wir uns zu einem Voguing-Workshop. Von Beginnern bis zu Fortgeschrittenen – jeder darf mitmachen und ist herzlich willkommen. Nach kurzen Dehnübungen geht’s direkt ans Eingemachte. „Jeder hat Struggles in seinem Leben, die er überwinden möchte. Voguing soll helfen, dein Innerstes zum Ausdruck zu bringen und das gewonnene Selbstbewusstsein in deinen Alltag einfließen zu lassen“, erläutert Plenvm. „Hier kannst du sein, wie du bist, wertfrei und zwanglos.“ „Yaaas, awesome!“, denke ich mir aufgeregt, als wir uns vor der Spiegelwand aufreihen. „Fühl den Takt, den Beat und pose!“ lautet die Ansage. Als die Musik, wie der Startschuss beim 100-m-Sprintlauf, aus den Boxen dröhnt, stehe ich plötzlich starr wie vom Blitz getroffen da. Ich bin von meinen Tanzkameraden überwältigt, die wie auf Knopfdruck voguen, was das Zeug hält. Ich, der schon seit Kindesjahren gerne tanzt und heute noch bei jeder Party den Dancefloor stürmt, bin tatsächlich von dieser Selbstsicherheit eingeschüchtert, die die Teilnehmer aus dem Nichts an den Tag legen.
„Lass deinen Emotionen freien Lauf!“
Entstanden ist diese Urban-Dance-Form in den 1960er-Jahren unter Afroamerikanern und Latinos in der Homosexuellen- und Transgender-Szene New Yorks. Von der Gesellschaft mehrfach marginalisiert, schufen sie sich eine ureigene Gegenwelt, gründeten sogenannte Houses, die vielen auch als Ersatzfamilie dienten, und organisierten Bälle, um eine glanzvolle Welt zu imitieren, die ihnen verschlossen war. Es war ein Spiel mit Rollen, Herkunft und Geschlecht: Für einen Abend durfte jeder sein, wer und was er wollte. Der Tanzstil entwickelte in Anlehnung an Posen und Körperhaltungen von Models seine typischen linearen und rechtwinkeligen Arm- und Beinbewegungen. Es ist ein flamboyanter Tanz, der den Eindruck von Luxus und Opulenz erzeugen will. Die Bezeichnung stammt dem entsprechend von der Modezeitschrift Vogue. 1990 machten Jenny Livingstones Dokumentarfilm Paris is Burning und Madonnas Video zu „Vogue“ den Tanz erstmals über die Szene hinaus bekannt, doch er blieb ein Subkulturphänomen.
Voguing soll helfen sein Innerstes zum Ausdruck zu bringen
Meine schockierte Erstreaktion sorgt dafür, dass ich meine Euphorie zurückschraube und verunsichert weiteren Anweisungen lausche:„Voguing ist eine Expression und kann demnach nicht Schritt für Schritt erlernt werden“, erklärt Plenvm. „Keine Good News für meine angekratzte Motivation!“, denke ich mir. „Es gibt dennoch gewisse Grundelemente, die als Anhaltspunkte dienen.“ Meine Hoffnung steigt, denn der Hunger, mein „inneres Gefühl“ rauszulassen, ist größer denn je. In der Kategorie Catwalk wird dem Lauf eines Models über den Runway nachgeeifert, beim Duckwalk watscheln wir in der Hocke vorwärts, bei der Hand- bzw. Floor- Performance machen wir mit unseren Gliedmaßen kantige Verrenkungen in hoher Geschwindigkeit, und bei Spins & Dips wirbeln wir am Boden umher. „Überspiel deine Struggles, tu so, als ob du es im Leben geschafft hast – Drama, Charisma, work it!“, so feuert Plenvm uns immer wieder an. Die Attitude muss stimmen: Blicke, Handhaltung, das Zusammenspiel von Schulterdrehung und Kopfneigung – all das ist entscheidend.
Voguing ist ein Selbstbewusstseins-Booster
Durch die gezeigten Grundtechniken wird mein Körper locker, die energischen Zwischenrufe verleihen die nötige Confidence und bei einer Gruppenübung macht es schließlich Klick: Ich schalte ab und lasse mich gehen. Das gegenseitige „Zuspielen“ einer Voguingpose lässt meinem Ausdruck freien Lauf. „Let your body go with the flow, you know you can do it!“ singt Madonna und behält damit recht. Wie selbstverständlich nehme ich die mir zugeworfene Geste an und posiere leidenschaftlich, bevor ich sie mit einem Luftkuss kess meinem Kollegen weiterkicke. Die Gruppendynamik, die sich so rasch zwischenmenschlich entwickelt – ohne vorheriges Kennenlernen und Vorurteile, sondern einzig und allein durch rhythmische Bewegungen –, ist ansteckend und sehr befreiend. Voguing ist mehr als eine Tanzform, es ist ein Selbstbewusstseins-Booster, der Menschen den Raum gibt, sich zu entfalten und Gefühle körperlich auszudrücken.
Über einen Workshop kam Gregor zum Tanzen. Mit 18 ging er gleich mal für drei Monate nach New York, in die Geburtsstadt des Voguings. Interessierte können über Instagram @plenvm oder @eatslaylovevienna Kontakt aufnehmen. Dort wird verraten, wo die nächsten Veranstaltungen stattfinden.