Warum es beim Burlesque um mehr als nur ums Nacktsein geht
Der Mythos, bei Burlesque handle es sich um das bloße Verführen durch Nacktheit, hält sich hartnäckig. Wir haben hinter den Vorhang des Burlesque-Studios Cirque Rouge geblickt und gelernt: Der Tanz ist vielmehr eine Form der Kunst und der weiblichen Selbstbestimmung.
„Schaut’s her, Puppis. Lasst mich euch helfen beim Anstecken der Perücke!“, meint Kalinka, die selbst noch mit ihren Lockenwicklern auf dem Kopf durch die Wohnung wuselt, zu den beiden Tänzerinnen Julia und Christina. Die drei sind gerade dabei, sich in Kalinkas Wohnung in Burlesque-Schale zu werfen. Der ganze Prozess dieser Verwandlung nimmt oft mehrere Stunden in Anspruch. Sieht man das Endergebnis mit all den unterschiedlichen Komponenten später auf der Bühne, ist das wenig verwunderlich: Glitzersteine, Federn, Tüll und Hüte – hier wird nichts dem Zufall überlassen, alles muss sitzen. Und wenn während des Herrichtens doch ein Stückchen Tüll auf dem Boden landet, hat es Kalinkas Nacktkatze Opia sofort unter ihren Krallen. „Na, du kleiner Rabauke, du findest das jetzt wieder besonders aufregend, gell?“, sagt Kalinka zu ihrer kleinen Raubkatze, die sich gerade unter ihrem Tüllkleid versteckt. „Beim Anziehen braucht es einfach manchmal mehrere Hände. Ich bin gleich bei euch“, entschuldigt sie sich, während ihr Christina und Julia mit dem Kleid und dem BH, in dem über ein halbes Jahr Handarbeit steckt, helfen. Kein Grund, sich zu entschuldigen, immerhin gibt es in Kalinkas Wohnung, die sich direkt neben ihrem Burlesque-Studio Cirque Rouge befindet, ohnehin genug zu entdecken. Boa-Schlange Egon nimmt das Styling-Spektakel sichtlich gelassener als Katze Opia: Er chillt in seinem Terrarium, das vielmehr ein alter Beichtstuhl ist, zu dem Kalinka durch Zufall gekommen ist; sie hat ihn zum Herzstück ihres Wohnzimmers und gleichzeitig zum Terrarium umfunktioniert. Gegenüber an der Wand kann man sich kaum sattsehen: Alte Bilderrahmen, Retro-Lampen, Perlenketten, Federboas und Fuchsfelle sind hier unter anderem versammelt.
Burlesque als Berufung?
Man merkt schnell: Burlesque ist für die 34-jährige Kalinka viel mehr als bloß ein Job: „Ich könnte mir ein Leben ohne Burlesque nicht vorstellen. Es ist verdammt viel Arbeit dahinter und es nimmt überhand über das Leben, aber genau das finde ich gut. Ich hatte vor Burlesque keinen meiner Jobs länger als eineinhalb Jahre.“ So, wie sie heute dasteht, ist es zugegeben auch schwierig, sich Kalinka noch als Maklerin, Immobilienverwalterin oder Grafikerin vorzustellen. Zu Burlesque ist sie eigentlich durch Zufall gekommen: „Einer Freundin ist für eine Modenschau der Schlussakt, bei dem jemand aus einer Torte springen und tanzen sollte, ausgefallen. Sie hat mich kurzerhand überredet, das zu übernehmen. Das hat mir im Endeffekt total Spaß gemacht, Leute haben mich danach angesprochen, ob ich das auch auf ihrer Party machen könnte, und so habe ich mit meiner Freundin Monika dann gemeinsam das Burlesque-Business gestartet.“ Das war vor mittlerweile zehn Jahren, seit neun Jahren gibt es regelmäßig die gleichnamige Vorzeigeveranstaltung Cirque Rouge in der Roten Bar in Wien. Seit vier Jahren macht Kalinka, die nur ebendiesen Künstlernamen nennen möchte, hauptberuflich Burlesque. Neben Shows wie Cirque Rouge bietet sie auch Workshops inklusive Hair- und Make-up-Schulung an. Hauptsächlich Frauen soll so die Welt des Burlesque, die „Welt der Verführung“, wie Kalinka selbst sagt, näher gebracht werden. Bleibt die Frage: Ist das Ziel von Burlesque tatsächlich, andere zu verführen? Wenn ja, wie empowernd kann das sein? „Zum Verführen gehört etwas ganz Wichtiges dazu, und zwar, dass man sich selbst so, wie man ist, unglaublich attraktiv findet. Du musst es selber wollen und glauben!“, stellt Kalinka klar und versucht, genau diese Message auch den Frauen in ihren Workshops zu vermitteln: „Es geht nicht darum, einen Move perfekt zu können, sondern dich selbst zu fühlen. Es geht bei Burlesque nicht um das Nacktsein per se. Es geht um das gesamte Bild. Burlesque ist für mich eine Kunstform, in der man so frei ist wie in keiner anderen“, erzählt sie, als sie von einer kurzen Showeinlage durch Nacktkatze Opia unterbrochen wird. Der Wildfang flitzt durch die Wohnung und zieht sich wenig später ins Körbchen zurück, um sich über die stibitzte Feder in ihren Krallen herzumachen. Nach einer kurzen, liebevollen Rüge und einer Kuscheleinheit fährt Kalinka fort: „Du kreierst dein eigenes Minitheater. Du suchst dir selbst deine Stimmung aus und machst ein nonverbales Theaterstück daraus.“ Genau aus dieser Ecke kommt Burlesque nämlich auch: Im 16. und 17. Jahrhundert war eine Burleske ursprünglich ein parodierendes Theaterstück. Sie persiflierte die Oberschicht. Dass sich Tänzerinnen während des Stücks auch auszogen, war ein Aspekt, aber Satire und Parodie standen stets im Vordergrund. Diese Tanzform war also ursprünglich ein Instrument der Gesellschaftskritik, wurde in den 40er-Jahren aber von anderen Einflüssen wie Pin-up kurzfristig verdrängt. Nach der sexuellen Revolution lebte Burlesque durch die Frauenbewegung wieder auf. Kalinka sieht bis heute in jeder Show die Wurzeln, also das Theater und die Komik: „An manchen Tagen bin ich lieber ein trauriger Clown, an anderen Tagen lieber ein Showgirl im Champagnerglas. Es ist eben ein Minitheaterstück, das in einer Art Striptease endet. Es wird der Tänzerin überlassen, wie viel sie ablegt. Das Ausziehen ist eigentlich nur zum Teasen da – um das Publikum in die Stimmung reinzuziehen“, erklärt sie.
Burlesque als Frauenzirkus?
Das Teasen scheint Kalinka zu gelingen. Nicht nur bei dem zu 70 Prozent weiblichen Publikum, sondern auch bei ihrem Papa, was die Tänzerin und Geschäftsfrau am meisten ehrt: „Mein Papa war zum ersten Mal bei einer Show, damals wusste man in Wien noch ganz wenig über Burlesque und ich war zugegebenermaßen etwas angespannt. Nach der Show kam er zu mir und meinte: ‚Warum hast du mir denn nicht einfach gesagt, dass du da Kunst machst?‘ Das war für mich das schönste Kompliment. Mein Papa kommt vom Land, hat wenig mit Theater am Hut, aber erkannt, dass es nicht darum geht, sich auszuziehen. Damals wussten die Menschen eben noch kaum etwas über die Burlesque-Szene.“ Mittlerweile hat sich da etwas getan – auch durch den Film Burlesque mit Christina Aguilera und Cher. „Der Film weicht zwar von der Realität ab, weil Tänzerinnen in der Regel nicht singen, aber er hat schon dazu beigetragen, dass Leute etwas mit dem Begriff anfangen konnten“, so Kalinka, wenngleich der Ursprung des Tanzes in dem Film kaum thematisiert werde. Burlesque kommt nun mal aus der Comedy-Ecke. „Sexualisiert wurde es erst später“, so Kalinka. Wobei „sexualisiert“ vielleicht gar nicht der richtige Begriff ist. Immerhin geht es um eine „selbstbestimmte Nacktheit. Was ich außerdem beobachtet habe, ist, dass Werbung mit Nackten auf Plakaten weniger schockiert als etwa Burlesque. Man merkt auch, dass Acts, die schon nackt auf die Bühne kommen und tanzen, als weniger anrüchig empfunden werden als Acts, die sich auf der Bühne ausziehen. Das Vor-anderen-Ausziehen ist das Spannende!“ Und genau das wurde bisher wohl kaum mit Feminismus, sondern eher mit Sexismus in Verbindung gebracht. Der Unterschied bei einem Striptease im Burlesque ist die Selbstbestimmung der Frauen, die ebendiesen ausführen. Laut Kalinka ist die Burlesque-Szene nämlich „sehr feministisch. Klassische Feministinnen verstehen das vielleicht nicht, wir glauben aber daran, dass wir alles können, was ein Mann auch kann, und dass wir trotzdem für Frauen einstehen und uns ausziehen können, wenn wir das wollen. Die Szene räumt auch total viele Klischees auf – etwa, dass du nicht nur als dünnes Model attraktiv sein kannst. In diesem Beruf gibt es keine Grenzen hinsichtlich Alter oder Körperform. Hinzu kommt, dass Burlesque eine Selbstständigen-Szene vollgepackt mit Powerfrauen ist. Ein Frauenzirkus quasi“ – und zwar in der positivsten Form, in der man dieses Wort verwenden kann, denn „jeder Act ist von extrem starken ‚Weiblichkeiten‘ geprägt“.
Burlesque als Vorzeigeszene für Body Positivity und Female Empowerment?
Ebensolche starke Frauen sind auch Christina und Julia, die seit drei Jahren als das Duo The Dazzling Daisies auch im Rahmen von Cirque Rouge auftreten. Die beiden haben im Alter von fünf Jahren zu tanzen begonnen, sich später beide selbstständig gemacht und sich dann über den Tanz kennengelernt. „Kalinka hat uns dann auch auf die Idee mit unserem Duo-Namen gebracht und uns quasi getauft“, erzählt Christina schmunzelnd. Und seitdem ging es für die beiden steil bergauf im Burlesque-Business: „Wir haben als Stage Kittens gestartet. So nennt man die Frauen, die das Gewand der Tänzerinnen, die sich entblößen, auf der Bühne aufsammeln. Wir haben das immer sehr tänzerisch und mit akrobatischen Bodenelementen gemacht. Das kam gut an“, erinnert sich Julia. Seitdem bastelt das Duo an seinem Netzwerk: „Es ist eine harte Branche. Man muss schon ordentlich reinbeißen“, stellt Christina klar und erklärt weiter: „Denn Burlesque ist so viel mehr als nur das, was du auf der Bühne siehst. Es ist das Endprodukt einer langen Reise an Arbeit, die man reinsteckt. Das beginnt beim Vermarkten und endet bei den aufwendigen Kostümen.“ – „Genau! Die Kostüme sind schon faszinierend. Wir sind im Alltag ganz anders, aber sobald wir die Kostüme anhaben und die Perücken tragen, werden wir zu anderen Personen, und das liebe ich so daran“, fügt Julia hinzu, während sie ihre Perücke ablegt, sie noch einmal sorgfältig bürstet, faltet und von ihrem Glitzer-BH wieder in das gemütliche Baumwollkleid schlüpft. Ebendiese gegensätzlichen Outfits zwischen privat und beruflich haben auch Auswirkungen darauf, wie Julia sich wahrgenommen fühlt – und zwar auf eine andere Art und Weise, als man zunächst vielleicht vermuten möchte: „Ich fühle mich als Kunstfigur auf der Bühne oft mehr wertgeschätzt als als Frau im Alltag, wenn ich auf der Straße gehe und mir jemand aus dem Auto nachpfeift. Oder im Club, wenn mir jemand ungefragt an den Hintern greift. Das gäbe es im Burlesque, wo Frauen bestärkt werden und Selbstbestimmung im Fokus steht, einfach nicht. Da käme auch nie eine Frau auf die Idee, einer anderen die Show zu stehlen. Im Gegenteil: Man supportet sich komplett.“ Dem kann auch Christina auf Basis ihrer Erfahrungen nur beipflichten: „Total. Burlesque steht für Empowerment und Kalinka ist für mich hier das Paradebeispiel. Ich habe selten einen Menschen gesehen, vor dem Männer wie Frauen so viel Respekt haben. Wenn sie einen Raum betritt, weiß man genau, was sie will. Sie zeigt: Das, was ich mache, dafür stehe ich auch. Sie weiß, was sie will, und das macht sie.“ Und Kalinka selbst? Die sieht ihre Zukunftspläne etwas bescheidener: „Ich mache Burlesque, solange es mich eben freut. Das ist ja das Schöne: Es gibt keine Altersgrenze, weil man beim Burlesque einfach wissen muss, wer man ist. Man muss zu sich selbst stehen, und dieses Gefühl wächst im Alter“, weiß sie aus eigener Erfahrung. Wobei, einen kleinen Traum abseits des Tanzens gäbe es da schon noch: „Ein Traum wäre natürlich, irgendwann eine Bar zu eröffnen, ein kleines Varieté“, sagt sie und kann ein Lächeln nicht unterdrücken. Nach dem Gespräch mit Kalinka ist klar: Wenn eine das kann, dann sie – vor allem mit der Hilfe anderer Powerfrauen aus der Szene. Diese Hilfe geht nämlich weit über das gegenseitige Helfen beim Perückenstecken und Anziehen hinaus. Immerhin ist Burlesque so viel mehr als nur Striptease: Kunst, Selbstbestimmung, der Inbegriff von Body Positivity – und eine Vorzeigeszene des Female Empowerments.