„Tar“: Wenn in der #MeToo-Debatte eine Frau der Bösewicht ist
Nur noch wenige Tage, bis die Oscars 2023 verliehen werden. Es wird also höchste Zeit, die Nominierten für den „Besten Film“ genau unter die Lupe zu nehmen. Dieses Mal geht es um „Tár“ – die Geschichte einer Dirigentin, die ihre Macht auf eine Art und Weise ausnutzt, wie wir es aus #MeToo-Fällen kennen.
Der einzige Unterschied: wir erleben sie jetzt aus der Sicht der Täterin.
„Tár“: Machtmissbrauch in der Hochkultur
Machtmissbrauch ist ein Thema, das wohl viele von uns schon einmal im Alltag begleitet hat. Das reicht von den kleinen Momenten, in denen die Kollegin vom Chef bevorzugt wird, einfach, weil er sie sympathischer findet bis hin zu den großen Skandalen, über die wir in den Medien lesen. Spätestens mit der #MeToo-Bewegung wurde der Machtmissbrauch auch in Hollywood zum großen Thema. Die bedrückenden Geschichten von Frauen, die von Hollywoodbossen manipuliert, missbraucht und vergewaltigt wurden, ziehen sich bis heute in Form von Klagen noch durch unseren Medienkonsum.
Das wohl bekannteste Beispiel ist dabei Harvey Weinstein, der derzeit wegen mehrfacher Vergewaltigung hinter Gittern ist. Doch eben solche Misshandlungen beschränken sich nicht nur auf die großen Hollywoodbosse, sondern sind vielerorts in der Kulturbranche zu finden. Das verdeutlicht jetzt der Oscar-nominierte Film „Tár“. Denn hier wird die Welt der klassischen Musik genau unter die Lupe genommen. Und schnell wird klar: auch hier spielt Macht eine bedrückend große Rolle. Wer sie hat, kann sie auf ganz einfache und oft gar nicht erkennbare Art und Weise missbrauchen. Zumindest so lange, bis man einen Fehler macht.
Ein Lügenkonstrukt fällt in sich zusammen
Das erlebt nämlich die Star-Dirigentin Lydia Tár (gespielt von Cate Blanchett). Sie ist eines der Aushängeschilder der klassischen Musikszene, lernte von Meistern wie Leonard Bernstein und erreicht Meilensteine, die keine Frau vor ihr in der Szene geschafft hat. Privat lebt sie mit ihrer Lebensgefährtin (der ersten Geige in ihrem Orchester) und ihrer Tochter ein Leben im Wohlstand. In der Szene ist sie nicht nur beliebt, sondern gilt auch als absoluter Trailblazer. Mit ihrer eigenen Förderung unterstützt sie sogar junge Frauen, die selbst in der Branche Fuß fassen wollen. Zu Beginn des Films steht sie vor dem Abschluss ihres großen Lebenswerkes: der Aufnahme von Mahlers „5. Sinfonie“ – einem Meilenstein für die Erfolgsdirigentin.
Doch mitten in der Arbeit an ihrem großen Werk wird immer deutlicher, dass Lydia alles andere als ein unproblematisches Vorbild ist. Sie manipuliert ihre Kolleg:innen und missbraucht ihre Macht, wo sie nur kann. So wählt sie etwa bewusst eine hübsche junge Frau als Neuzugang für ihr Orchester aus, weil sie sie attraktiv findet und beauftragt sie gleich mit einem eigenen Solo – eine Ehre, die eigentlich jemand anderem gebührt hätte. Ein Muster, dass Lydia schon lange verfolgt. Auch in ihrer eigenen Stiftung fängt sie mit ihren Schützlingen Affären an. Doch diese Lügenkonstrukt, das Lydia scheinbar jahrelang erfolgreich aufbaute, droht plötzlich zusammenzubrechen. Denn eine ihrer ehemaligen Schützlinge nimmt sich das Leben, nachdem Lydia sie fallen gelassen hat und aus der Szene ausgrenzt. Ihr Suizid hinterlässt zahlreiche Anschuldigungen und Fragen über die Beziehung zwischen ihr und der Star-Dirigentin.
Was passiert, nachdem man „gecancelt“ wurde
Am Ende des Films steht dann vor allem eine Frage im Raum: Gab es Lydia Tár wirklich? Die Antwort ist nein, doch der Film schafft es, die Lebensgeschichte der Dirigentin so glaubhaft zu machen und in reale Geschehnisse einzuflechten, dass man das fast gar nicht glauben mag. Gleichzeitig zeigt aber eben die Tatsache, dass Lydia eine fiktive Person ist, wie universell das Problem des Machtmissbrauchs ist. Lydia könnte jeder sein. Eine Dirigentin, ein Filmboss, ein Chef in einer großen Firma. Ihre Strategien und Vorgehensweisen sind so alltäglich – und genau das macht sie für das Publikum so bedrückend.
Denn der Film, der aus der Perspektive des Täters die Geschichte erzählt, zeigt uns auch immer wieder, wie Tár nicht nur ihre Kolleg:innen, sondern auch uns als Zuschauer:innen versucht zu manipulieren. Sie kontrolliert nicht nur ihr Umfeld, sondern auch ihr Image – lässt nur die Informationen zu, von denen sie profitieren kann. Am Podium wie auch im Rest ihres Lebens fühlt sich Lydia unersetzlich, schon fast gottähnlich. Ein Trugschluss, den Lydia schon bald am eigenen Leib erleben wird – und dennoch versucht, den Schein so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Denn ganz egal, wie oft sie gecancelt wurde, wie viel auch über sie bekannt wurde – sie findet ein Schlupfloch, um dennoch ihre Arbeit als Dirigentin zu machen (auch wenn die letzte Szene mit dem Glamour ihres anfänglichen Lebens absolut nichts mehr zu tun hat).
„Tár“: Machtmissbrauch aus der Perspektive einer weiblichen Täterin
Gäbe es ein Formel für den perfekten Oscar-Film – „Tár“ hätte sie geknackt. Denn der Film hat wirklich ALLES, was in der Geschichte der Nominierungen für Aufregung sorgt: einen starbesetzten Cast, jede Menge Anspielungen auf die Hochkultur und Klassik, die man als nicht-Klassik-Superfan im Anschluss googlen muss, und viele dramatische Pausen (SEHR viele dramatische Pausen).
Doch „Tár“ nimmt eben diese Formel und stellt sie bis zu einem gewissen Grad auf den Kopf. Denn der Film hat verstanden, dass es einen modernen Twist braucht, um als Oscar-Film auch fernab der Award-Season relevant zu sein. Wir bekommen LGBT-Repräsentation, gesellschaftspolitische Kritik und die Perspektive des Täters, die wir ansonsten nur selten so detailreich sehen. Die Entscheidung, von dem Bild, das wir mit den #MeToo-Tätern verbinden (also ältere mächtige Männer) abzuweichen, lenkt den Blick vielmehr auf die unterschiedlichen Wege, wie die Macht missbraucht wird.
Kritik von Dirigentin
Eine Perspektive, die nicht jedem gefällt. Denn so sehr „Tár“ für seine neue Sichtweise gelobt wird, so kritisch sehen sie Menschen aus der Szene. Ganz besonders die Dirigentin Marian Alsop. Sie ist Chefin des ORF Radio-Symphonieorchesters und kritisierte Anfang des Jahres die Darstellung aufs Schärfste. Denn „als Frau, als Dirigentin, als Lesbe“ fühle sie sich von der Darstellung „vor den Kopf gestoßen“, betont sie im Interview mit der „Sunday Times“. „Die Chance zu haben, eine Frau in dieser Position zu zeigen und sie dann als Misshandelnde darzustellen, bricht mir das Herz“, ergänzt sie. „Ich denke, alle Frauen und alle Feministinnen sollten von dieser Art der Darstellung irritiert sein, denn es geht ihr nicht um Dirigentinnen, sondern um weibliche Führungskräfte in unserer Gesellschaft.“
Und tatsächlich ist es ganz ungewohnt, eine Frau in der Rolle zu sehen, in der wir in den Schlagzeilen, Prozessen und Skandalen eigentlich nur Männer kennen. Doch Hauptdarstellerin Cate Blanchett betont, dass es in dem Film für sie weder um Geschlecht noch um Sexualität ging. „Es fühlte sich dringend an, es fühlte sich unbestreitbar an. Aber seltsamerweise habe ich überhaupt nicht über das Geschlecht der Figur oder ihre Sexualität nachgedacht. Und ich glaube, das liebe ich an dem Film. Er ist einfach so. Es ist ein sehr menschliches Porträt“, erklärt sie gegenüber dem „Hollywood Reporter“.
Denn das Publikum verbringt fast zweieinhalb Stunden mit der Sichtweise einer Täterin, die nie offen zugeben würde, dass sie eine ist. Wir sind mitten in Lydias Welt gefangen, sehen Großteils nur ihre Perspektive und verlieren uns in ihren Erklärungen und Rechtfertigungen, die sie so überzeugend darstellt, dass man selbst teilweise hinterfragt, ob daran vielleicht doch etwas dran ist. Es ist Manipulation der Extraklasse, der uns Cate Blanchett als Tár aussetzt und uns letztlich mit der Genugtuung zurücklässt, dass es doch so etwas wie Konsequenzen gibt – auch wenn diese vielleicht viel zu spät und viel zu sanft sind.