Heroin Chic: Warum sein Comeback so problematisch ist
Po-Liftings sind out, Tränensäcke wieder in. Erleben wir mit dem Comeback der „Heroin Chic“-Ästhetik der 90er und frühen Nullerjahre auch eine Rückkehr der Verherrlichung von Magerwahn und damit verbundenen Körperproblemen? Möglichst abgemagert und verwahrlost auszusehen, war in den 90ern nämlich plötzlich total en vogue.
Wir haben uns auf Spurensuche begeben und Antworten gesucht.
Feiert der Heroin-Chic ein Revival?
Die Tiktokerin Sara Carstens trägt sich dunklen Eyeliner unter ihren Augen auf. Den verwischt sie mit sichtbar zerschlissenen Nägeln, während sie zum Greek Tragedy-Remix (The Wombats) von Oliver Nelson abgeht. Die Influencerin ist 2020 eine der Ersten, die Augenschatten zum Trend erklären. Der Clip geht viral und zahlreiche Teenies tun es ihr gleich. „Endlich ein Trend, der die Art von Erschöpfung, die mein inneres Selbst die ganze Zeit empfindet, rüberbringt!“, huldigt eine Userin dem Trend. Passend dazu lässt die Mode den rauen, dreckigen Grunge-Look der 90er als Herbst/Winter-Trend auferstehen.
In der Erfolgsserie Euphoria werden die Hauptfigur Rue (gespielt von Gen-Z-Kultstar Zendaya) und ihr Freund Elliot als sexy Junkies stilisiert; die Inszenierung erinnert an 90er-Kultfilme wie Kids oder Basketball Diaries. Die Ästhetik der 90er und frühen Nullerjahre scheint mit dem Y2K-Trend allgegenwärtig – das lässt bei vielen Millennials und Ernährungsexpert:innen die Alarmglocken schrillen. Erst kürzlich sorgte die „New York Post“ mit der kontroversen Headline „Bye-bye Booty: Heroin Chic ist back“ für einen Aufschrei im Netz. Unter anderem nahm die Schauspielerin und Aktivistin Jameela Jamil den Beitrag als Anlass, um auf die Gefahren der Idealisierung es Körpertyps der 90er hinzuweisen.
Die 90er Jahre als Wiege des Heroin Chic
Wir erinnern uns: Die 90er-Modewelt war geprägt von schlaksigen Models mit strähnigem Haar und dunklen Augenringen. Fotograf:innen wie die Brüder Mario und Davide Sorrenti oder Corinne Day setzten Kate Moss und Jaime King zerbrechlich in Szene. Möglichst abgemagert und verwahrlost auszusehen war plötzlich total en vogue; junge Mädchen hungerten sich zu einem Schönheitsideal, das völlig krank war. Dieser umstrittene Trend wurde als „Heroin Chic“ bezeichnet – er fand mit dem Tod des 20-jährigen Davide Sorrenti im Mai 1997 sein Ende. Schnell verpasste die Modewelt Frauen ein neues Schönheitsideal in Form der braun gebrannten, sportlichen Gisele Bündchen.
Magerwahn als Gegentrend von Body Positivity?
Auch wenn die neuen Models etwas mehr von der Sonne geküsst waren: Dünne Körper blieben fast zwei Jahrzehnte lang das Mainstream-Ideal – bis in den 2010er-Jahren durch die Bewegung der Body Positivity verschiedene Körperformen ihre Bühne bekamen und strahlende Gesundheit zum neuen Statussymbol erklärt wurde. „Liebe deinen Körper so, wie er ist“, lautete die Message, die zwar gut gemeint war, jedoch erneut Druck erzeugte. Nun hat der Hype, möglichst gesund und muskulös auszusehen, einen Gegentrend ausgelöst: nämlich den, dem glorifizierten Wellness-Ideal mit einer abgefuckten Scheiß-drauf-Attitüde den Kampf anzusagen.
Auf diese Stimmung trifft nun das Comeback der 90er und damit ein Körperbild, das wir längst glaubten, hinter uns gelassen zu haben. Wer sich ein wenig mit Trends beschäftigt, weiß, dass diese sich in 20-Jahres-Zyklen wiederholen. Heißt: Was vor 20 Jahren angesagt war, ist heute wieder in. Low-Rise, Micro-Minis und Cut-outs bringen jetzt erneut die vorwiegend schlanken Körper der Models zum Vorschein. Und selbst die Kardashians scheinen ihre berühmten Kurven zu verlieren.
Wir müssen raus aus der Social-Media-Bubble
„Mein Social-Media-Feed war plötzlich voll von dünnen Mädchen, die gekonnt slim ihre Cargohose in Szene setzten“, meint die 19-jährige Nina. Obwohl sie ihre Periode nicht mehr bekam und ständig auf der Uni einnickte, war Nina lange nicht klar, dass sie ein Problem hatte, da sie auf all ihren Kanälen ähnlich dünne Körper sah. Wer „nicht proaktiv Personen folgt, die außerhalb der Blase sind, dem wird der Algorithmus immer genau das zuspielen, worin er sich ohnedies bewegt“, meint Dr. Manuela Konrad, Ernährungsexpertin und Vortragende an der FH Joanneum.
Davor könne uns auch die Kennzeichnung von Filtern nicht retten, wie Konrad meint. In ihrer Arbeit mit jungen Mädchen hat sie festgestellt, dass diese „die Gedanken nur kurzfristig zu beeinflussen scheint“. Die Lösung sieht sie in der proaktiven Auseinandersetzung mit der Social-Media-Bubble. Sie rät dazu, „aktiv Personen, die eine andere Vorstellung von ihrem Körperbild haben, zu folgen. Dies erfordert natürlich ein hohes Maß an Selbstkontrolle“, wie Konrad feststellt.
Schluss mit dem Labeling unseres Körpers!
Mit neuen Hashtags wie dem der #BodyNeutrality wird versucht, den Fokus weg vom äußerlichen Erscheinungsbild zu lenken und das Selbstwertgefühl nicht so sehr vom Aussehen abhängig zu machen. Natürlich ist der Kern dieser Message zu begrüßen – und doch steht wieder der Körper im Vordergrund. „Hören wir doch endlich damit auf, uns ständig über unsere Hintern und Brüste, ob hängend oder nicht, zu definieren“, fordert Nina und spricht damit vielen aus der Seele. Denn #skinny, #curvy oder #sexy, aber auch #BodyPositivity oder #BodyNeutrality sind allesamt Wertungen, die wir uns nicht mehr verpassen sollten. Erst wenn wir damit aufhören, Körper zu labeln und als Trend zu verkaufen, kann diese körperliche Negativspirale durchbrochen werden; erst dann können uns Trenderscheinungen wie die des Heroin Chic nichts mehr anhaben.
„Ich würde mir wünschen, dass wir es irgendwann schaffen, uns von diesen Äußerlichkeiten zu lösen. Es wird schwer, uns dem zu verwehren, dass dieser erste Eindruck uns eben nicht beeinflusst und manipuliert“, befürchtet Konrad. „Dazu braucht es die Solidarität von Frauen – und es braucht auch ganz viel Umdenken bei Männern.“ Es gibt also noch viel zu tun, damit Frauen sich von aufgezwungenen Idealen und schlechten Trendeinflüssen lösen.