Als Baby entführt: Mann trifft seine Mutter zum ersten Mal mit 38 Jahren
1983 wird Tyler Graf in Chile geboren und kurze Zeit später zur Adoption freigegeben. Dass er jedoch nicht adoptiert, sondern als Baby entführt wurde, erfährt der Feuerwehrmann erst 38 Jahre später.
Ein Zufall deckte die Geschichte auf.
Feuerwehrmann rätselt jahrzehntelang über Herkunft
38 Jahre lang lebte Tyler Graf ein recht normales Leben. Als Feuerwehrmann arbeitete er in Houston und verbrachte seinen Alltag mit seiner Frau und dem gemeinsamen Kind. Nur eine Sache in seinem Leben war ungeklärt: Seine Familie. Denn Tyler wusste, dass er adoptiert war. Über seine leibliche Mutter hatte er einige wenige Details. Er wusste, dass ihr Name Hilda Quezada war. Als sie 26 Jahre alt war, brachte sie Tyler zur Welt und gab ihn zur Adoption frei, da sie bereits Kinder und nur wenig Geld hatte. Zumindest stand das in seinen Adoptionspapieren.
Für Tyler ein schwerer Schlag, den er nicht immer akzeptieren wollte. Nicht zu wissen, was genau vor seiner Adoption passiert war, war für den Mann schwer zu verarbeiten. „Es ist als hätte man die ersten fünf Minuten eines Films und damit die Handlung verpasst“, erzählt er gegenüber „ABC News“. Dass seine Mutter ihn hergegeben hat, beschäftigte ihn lange Zeit. „Ich trug diese Feindseligkeit, diesen Stein auf meiner Schulter, mein ganzes Leben lang mit mir herum“, gesteht er auch der „New York Times“.
„Zwei Wochen nach der Geburt sagte man mir, er sei gestorben“
Es sollte Jahrzehnte dauern, bis Tyler diesen Stein loswerden konnte. Denn als er selbst schon Vater war, erfährt er durch einen Zufall von den Hintergründen seiner Adoption. Ein Feuerwehrmann aus Chile, der nach Houston kam, erzählte seinem neuen Kollegen Tyler von einer Organisation, die dabei hilft, Familien nach illegalen oder erzwungenen Adoptionen wieder zusammenzuführen. Die Organisation „Hijos y Madres del Silencio“ sollte Tyler schließlich helfen, das Geheimnis seiner Vergangenheit aufzudecken.
Doch die Wahrheit war für den 38-Jährigen ein richtiger Schlag ins Gesicht. Denn Tyler wurde nicht freiwillig zur Adoption freigegeben, ganz im Gegenteil. Seine leibliche Mutter Hilda wollte ihn immer selbst großziehen. Doch es kam anders. „Zwei Wochen nach der Geburt sagte man mir, er sei gestorben“, so Hilda Quezada. „Ich bat um den Leichnam, aber man weigerte sich mit der Begründung, er sei zu klein.“
Tyler war aber gar nicht gestorben, sondern das Opfer einer geplanten Kindesentführung geworden. Eine Entführung, die in der diktatorischen Regierung der 1970er und 1980er eine häufige Praxis war. Die Babys wurden ihren Familien weggenommen und dann zur Adoption freigegeben; Experten sind sich sicher, dass im Rahmen dieser kriminellen Aktionen mehrere tausende Kinder fälschlicherweise adoptiert wurden.
Als Baby entführt
Denn das damals regierende Pinochet-Regime gab Babys zur erzwungenen Adoption frei, um das Bevölkerungswachstum zu kontrollieren und so die Wirtschaft des Landes zu fördern. „Was wir letztendlich hatten, war eine Abwanderung von armen Kindern, die als Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes angesehen wurden“, erklärte Karen Alfaro Monsalve, Professorin an der chilenischen Universität Austral.
„Pinochet hatte eine Art Zwangsmigration, die dazu beitrug, das Bevölkerungswachstum zu kontrollieren und den neoliberalen Wandel des Landes zu ermöglichen.“ Doch während Krankenhäuser, Ärzte, Schwestern und Richter in diese kriminelle Handlung involviert waren, wussten weder Tylers leibliche noch seine Adoptivmutter über die aggressiven Machenschaften Bescheid.
Gemeinnützige Organisation für andere Betroffene
Eine Enthüllung, die nicht nur für Tyler ein Schock war, sondern vor allem auch für seine Mutter. Denn die Organisation kontaktiert sie und erzählt ihr, dass der Sohn, um den sie jahrzehntelang getrauert hat, noch am Leben ist und damals entführt wurde. „Ich wollte schreien und habe vieles infrage gestellt. Ich fragte mich, ob er geliebt wurde, ob er gut aß, ob er manchmal gefroren hat. Warum ist mir das passiert?“, erzählt Tylers Mutter gegenüber „ABC“. Doch Tyler ging es gut und mithilfe einer DNA-Untersuchung konnte letztlich auch bestätigt werden, dass er wirklich Hildas Sohn war.
Kurze Zeit später besuchte Hilda ihren Sohn; jetzt flog er zum ersten Mal in seine Heimat Chile. Dort sah er nicht nur seine leibliche Mutter wieder, sondern lernte auch seine Geschwister kennen, von denen er bisher nichts gewusst hatte.
Für Tyler der Beginn eines neuen Lebensabschnittes, der auch mit einigen Schwierigkeiten kommt. Denn zur Rechenschaft lässt sich in diesem Fall niemand so einfach ziehen. Tyler will jedoch helfen und setzt sich dafür ein, dass Menschen, die ebenfalls als Babys entführt wurden, eine Familienvereinigung erleben können. Dafür gründete er eine gemeinnützige Organisation, die kostenlose DNA-Tests für Betroffene anbietet.
Privat hat er zusätzlich noch andere Hürden zu überwinden. „Jetzt stehe ich zwischen den Familien. Ich möchte weder die Gefühle meiner Adoptiveltern noch die meiner leiblichen Mutter verletzen, also ist es im Moment ein schmaler Grat“, erklärt er. „Ich versuche herauszufinden, wo ich in der Mitte von all dem stehe.“ Doch im Fokus steht für den 38-Jährigen jetzt, eine Verbindung zu seiner leiblichen Familie zu finden. Denn: „Wir holen 38 Jahre verlorene Zeit wieder auf“, schildert er. „Zeit, die wir nicht zurückbekommen können.“